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W. Jantzen, Bremen

Beantwortung der Fragen an die Teilnehmer des Runden Tisches zum Problem des „denkenden Körpers“


    1. Können Ideen, insbesondere adäquate Ideen, aus der Bewegung eines Körpers entlang der raum-zeitlichen „Kontur“ eines äußeren Körpers entstehen? Worin besteht der Unterschied zwischen materiellen und ideellen sinnlichen Abbildern?

Die Frage ist inadäquat gestellt:

Lehrsatz 14, Teil IV der „Ethik“ (Spinoza 1989) hält fest, dass die wahre Erkenntnis des Guten und Schlechten einen Affekt (auf der Ebene der bis dahin behandelten subjektiven Raum-Zeit der Vorstellung) nicht zu hemmen vermag, sofern sie wahr ist, „sondern allein, sofern sie als Affekt angesehen wird“. Vor diesem Hintergrund muss gelesen werden, dass die „Wahrheit die Norm ihrer selbst“ (Ethik II, LS 43, Anmerkung) sein kann, sofern sie adäquaten Ideen entspringt. Dies bedeutet, dass sie sich die Wahrheit über Gemeinbegriffe (im Unterschied zu empirischen, allgemeinen Begriffen) zugleich auf das bezieht, was der aufgrund adäquater Idee denkende und handelnde Mensch mit der Welt und insbesondere anderen Menschen gemeinsam hat. D.h. Adäquatheit und Wahrheit der Idee sind einander ein Spiegel. Die Wahrheit ist die Norm ihrer selbst, sofern sie sich in diesem Spiegel in angemessener Form zur Resonanz, zur Übereinstimmung bringt. Kognitive Wahrheit und affektive Gewissheit fallen folglich im Akt der Vernunftwerdung zusammen. Dies ist insofern möglich, wenn begründet in der Natur der Vernunft, „die Dinge nicht als zufällig, sondern als notwendig zu betrachten“ sind (Lehrsatz 44), d.h. „unter einer gewissen Art der Ewigkeit“ wahrgenommen werden (LS 44, Folgesatz 2).

Diese Möglichkeit gründet m.E. letztlich in der Natur der Affekte, welchen den Übergang von der bloß logischen Bestimmung (Erkenntnis der 2. Art) zur anschauenden Erkenntnis der 3. Art gewährleistet (LS 40, Anm. 2).

Insofern bezieht sich die Frage 1 auf die wahren Ideen gemäß Ethik I, Grundsatz 6: „Eine wahre Idee muss mit ihrem Gegenstand übereinstimmen“, nicht jedoch auf die Frage der adäquaten Ideen. Diese (auf der Basis der affektiven Wertung) adäquaten Ideen vermitteln sich über die Gemeinbegriffe (LS 40, Beweis) mit den wahren Ideen. Als wahre und adäquate Ideen verbinden sie qua Vernunft und Affekt Besonderes, Allgemeines und Einzelnes in der Erkenntnis des Gegenstandes ebenso wie in der damit verbundenen persönlichen, affektiv stimmigen [Selbst-] Erkenntnis.

Folglich müssen wahre und adäquate Ideen zugleich materielle und ideelle Abbildfunktionen so vereinen (ohne ein „Bild“ zu sein; vgl. Leont’ev 1981), dass sich Sinn und Bedeutungen angemessen vermitteln. Dies ist jedoch nur möglich, wenn der persönliche Sinn nicht losgelöst von ihm angemessenen Bedeutungen existiert (Leont’ev 1979, 144ff.), sondern diese zielen auf das, was in höchstem Maße allen Menschen als Grundbedingungen ihres Seins gemeinsam ist: ein friedliches Zusammenleben aller (vgl. Spinozas „Politischen Traktat“). Das Problem in Il’enkovs Herangehensweise ist es, dass die Erkenntnisfunktion der Affekte nicht behandelt wird, und dass folglich auch der ideelle Raum lediglich als Bedeutungsraum, nicht als affektiver Raum, Raum sozialen Sinns existiert (nach Leont’ev 1998 ist der Sinn ursprünglich gleich den Emotionen; vgl. zur Rekonstruktion auch Jantzen 2003 a; b).

    2. Stimmen die beiden Definitionen überein: „Der Mensch ist ein denkender Körper“ und „Der Mensch ist das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“?

Das können sie gar nicht, weil das zweite Zitat in dieser Form eine Verballhornung der 6. Feuerbachthese ist. Dort lautet der Text exakt: „In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (MEW 3, 6)

Da Marx (Einleitung zu den „Grundrissen“; MEW 42, 40), sehr genau individuelles Subjekt und gesellschaftliches Gesamtsubjekt unterscheidet (dto. im „Kapital“ am Verhältnis von Wertgröße und Wertform; MEW 23, Kap. 1), ist der denkende Körper des einzelnen Menschen mit dem denkenden Körper des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts immer nur tangential (so Lotman, 1990, zur Verbindung von verschiedenen Semiosphären) bzw. differentiell an einem bestimmten Raum-Zeit-Punkt verbunden, entsprechend der von Sève (1973) hervorgehobenen juxtastrukturellen Position des Individuums als Persönlichkeit. Das Persönliche ist gesellschaftlich in seiner Einmaligkeit und einmalig in seiner Gesellschaftlichkeit.

    3. Was ist logisch primär in der materialistischen Dialektik – die Sache oder der Körper?

Weder noch. Denn der Körper als beseelter Körper in der Welt ist nur Körper bezogen auf die Sache und beseelt ob der ersten Idee seines eigenen Körpers. Und die Sache ist nur Sache vermittelt über die Idee des Körpers und der Affektion des Körpers durch das Ding. Konstitutiv ist die Idee des conatus bei Spinoza, des Beharrens in der eigenen Existenz als Grundlage der Bestimmung des Modus jeden Körpers. Der sich ausdifferenzierende beseelte Körper (als Modus der natura naturata) trägt diese Dynamik nicht nur physikalisch oder chemisch, sondern (im Unterscheid zum unbelebten Körper) qua Organisation psychosomatisch als appetitus und psychisch als cupiditas bzw. voluntas in sich und sichert damit in der natura naturata die Selbstbewegung der natura naturans. Primär ist also die „Materie in Bewegung“ (vgl. auch Jantzen und Feuser 1994).

    4. Wie ist der Ausdruck „denkender Geist“ bei Engels und Il’enkov aufzufassen – buchstäblich oder allegorisch?

Buchstäblich, denn da die organische Materie mit Notwendigkeit den denkenden Geist hervorbringt (Engels, MEW 20, 327) bringt sie auch mit Notwendigkeit die Voraussetzungen (Möglichkeiten) zur Genesis des Menschen und damit zur Gesellschaftlichkeit hervor: Arbeit, Sprache und „Gesellschaftstrieb“ (Engels, Brief an Lawrow, MEW 34, 172). Auf dieser Basis entsteht mit Notwendigkeit gesellschaftliche Subjektivität und damit das „Ideelle“ (vgl. auch die Argumentation von Mamardashvili 1986 zur Marxschen Bewusstseinstheorie, die im Gegensatz zur Philosophie der Aufklärung Bewusstsein an das gesellschaftliche Subjekt bindet – nur so hat der Satz, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, letztlich Sinn).

    5. Wie verstehen Sie die marxistischen Thesen: „Die Arbeit ist das Subjekt des Denkens“ und „Die Arbeit hat den Menschen geschaffen“?

Die Arbeit des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts als conatus, appetitus, cupiditas und voluntas ist das Subjekt des Denkens. Da sie aber juxtastrukturell über die Warenform mit dem je einzelnen Arbeiter produktiv und konsumtiv verknüpft ist, hat zu gelten: Die Arbeit des einzelnen Arbeiters ist gesellschaftlich in ihrer Einmaligkeit und einmalig in ihrer Gesellschaftlichkeit.

    6. In welchem Fall gewinnt eine körperliche Tätigkeit ideellen Charakter? Wer ist das Subjekt einer solchen Tätigkeit: der Körper, die Seele, die Gesellschaft?

Sie hat diesen prinzipiell und von Anfang an, da der menschliche Körper sozial und gesellschaftlich von seiner Natur her ist. Vygotskij hat in seinem Spätwerk dies als Verhältnis von rudimentärer und ideeller Form entwickelt, die durch die „Zone der nächsten Entwicklung“ vermittelt sind und werden. Er überwindet damit den unfruchtbaren cartesianischen Gegensatz von niederen und höheren Funktionen, den er in „Die Lehre von den Emotionen“ analysiert und kritisiert. Bereits für das Neugeborene gilt, dass es als menschliches Individuum gesellschaftlich in seiner Einmaligkeit und einmalig in seiner Gesellschaftlichkeit ist.

    7. Kann man den Geist definieren als Art und Weise der Tätigkeit des Körpers?

Als die gesellschaftlich vermittelte Art und Weise der Tätigkeit des beseelten Körpers in der Welt, die gesellschaftlich in ihrer Einmaligkeit und einmalig in ihrer Gesellschaftlichkeit ist. Dabei sollte Tätigkeit jedoch im Sinn von Leont’ev s spinozanischer Auffassung von Tätigkeit begriffen werden (vgl. meine Rekonstruktion; Jantzen 2003 c).

    8. In welchem Raum bewegt sich das theoretische Denken? Im körperlichen? Oder ideellen? Wie verhalten sich beide zueinander?

Der ideelle Raum existiert in seiner gesellschaftlichen Einmaligkeit und einmaligen Gesellschaftlichkeit nur über die juxtastrukturelle Koppelung von individuellem und gesellschaftlichem Gesamtsubjekt (vermittelt über eine Reihe spezifischer Ebenen von gemeinschaftlicher und gesellschaftlicher Organisation). Durch Vergegenständlichung in Sprache und Produktion, u.a. in Büchern, Internet, Arbeitsprodukten, Maschinen, materialisiert sich das Ideelle im gesellschaftlichen Körper ebenso in Form wahrer wie in Form adäquater Ideen und der Vermittlung beider (vgl. die Erörterung des Zusammentreffens von Kältestrom und Wärmestrom des Marxismus bei Bloch bzw. die Erörterung über das Verhältnis von Marxismus und Theologie in der ersten geschichtsphilosophische These Walter Benjamins).

    9. Worin besteht die Universalität des menschlichen Wesens, und welche Struktur des Körpers setzt es voraus?

Als Universalität des menschlichen Wesens beinhaltet es in sich die Aufhebung der gesellschaftlichen Verdinglichung des Einzelnen ebenso wie der Gesellschaft als Ganzes qua gesellschaftlicher Reflexion. Hierfür gilt ebenfalls, dass die wahre Erkenntnis des Guten und Schlechten einen Affekt nicht zu hemmen vermag, sofern sie wahr ist, „sondern allein, sofern sie als Affekt angesehen wird“. Vgl. W. Benjamin*: „Die Vergangenheit führt einen zeitlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird“ (1. These); und: „Freilich fällt erst der erlösten Menschheit ihre Vergangenheit vollauf zu“ (2. These). Diese Universalität liegt darin, mit Notwendigkeit Sinn im Sein bilden zu müssen und zugleich das sinnvolle Sein als Grund jeglicher humanen Existenz zu erhalten (vgl. hierzu Hegels Diskussion der Anerkennung, Bubers Diskussion des Dialogs oder die Formulierung von Marx und Engels zur freien Entwicklung eines jeden als Bedingung der freien Entwicklung aller [MEW 4, 482] – eine Bedingung, die die je einzelnen für sich nur insofern in Anspruch nehmen können, als sie der freien Entwicklung der je anderen nicht widerspricht!).

* Bezogen auf Walter Benjamin meine ich, dass die mit humanem Denken verbundene Affektion möglicher Zukunft der Menschen in der Menschheit, (Ernst Bloch führt dies im "Prinzip Hoffnung" als "Wärmestrom" gegenüber dem "Kältestrom" der Marxschen ökonomischen Analyse mit ein) eine weltliche Eschatologie begründet, allerdings im Unterschied zu Bloch: gänzlich ans Hier und Jetzt gebunden und nicht auf eine fiktive Zukunft gerichtet. In ihr (und nicht in einer auf eine fiktive himmlische oder sozialistische Zukunft, so wünschenswert letztere wäre) gründet sich Universalität der Vernunft als Verantwortung für Humanität im Hier und Jetzt mit Offenhalten der Kategorie Möglichkeit (für eine humane und sozialistische Zukunft). Die Verwirklichung der Universalität der Vernunft liegt als persönliche Verantwortung je konkret in der Hand der je Einzelnen (Leont'ev spricht einmal mit Bezug auf Gorki davon, dass jeder Mensch "Mensch der Menschheit" werden). Mit der Passage des Manifests "die freie Entwicklung eines jeden ist die Bedingung der freien Entwicklung aller" ausgedrückt: nicht am Ende der Geschichte (im Kommunismus), sondern am Anfang einer humanen Zukunft, jedoch mit der Einschränkung, dass diejenigen, welche diese Entwicklung behindern, insofern und insoweit sie dies tun, diesen Satz nicht für sich beanspruchen können. Ich denke genau dieses artikulieren Benjamins Thesen.

    10. Wie ist die Seele des Menschen in seinem Körper repräsentiert, und wie ist der Körper in der Seele repräsentiert?

Ethik III, Lehrsatz 2 lautet: „Der Körper kann die Seele nicht zum Denken und die Seele den Körper nicht zur Bewegung oder zur Ruhe oder zu irgend etwas anderem (wenn es noch etwas gibt) bestimmen“. Wohl aber kann das Körper-Seelische sich auf das Körper-Seelische beziehen und es vermittels seiner Begriffe, sofern sie zugleich Affekte sind, widerspiegeln (qua Reflexivität). Damit steht hinter den Begriffen die Affektivität, der conatus in Form von appetitus und cupiditas, bzw. die Affekte in Form von Emotionen, welche (als Bestandteil der Orientierungstätigkeit) die Grundlage des Sinns sind, so Leont’ev (1998). Und dieser Sinn ist zugleich sozial und individuell, gesellschaftlich und persönlich, wie dies in verdinglichter Form die Religion als Paradebeispiel aufzeigt. Der soziale Sinn ist, so die Soziologen Berger und Luckmann, in Form symbolischer Sinnwelten das „schützende Dach über unserem Kopf“. Insofern ist auch die Seele des Menschen gesellschaftlich in ihrer Einmaligkeit und einmalig in ihrer Gesellschaftlichkeit.

Wolfgang Jantzen
Bremen, den 28.01.2007

Literatur

  • Berger, P.L.; Luckmann, T.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Fischer 1980
  • Engels, F.: Dialektik der Natur. In: MEW 20. Berlin (Dietz) 1971
  • Engels, F. Brief an Pjotr Lawrow. In: MEW 34. Berlin (Dietz) 1971
  • Jantzen, W.; Siebert, B. (Hrsg.): Ein Diamant schleift den anderen – Ėval’d Vasil’evič Il’enkov und die Tätigkeitstheorie. Berlin (Lehmanns Media) 2003
  • Jantzen, W.: Leontjew, Iljenkow und die Meschtscherjakow-Debatte. In: Jantzen und Siebert, 2003, 79‑95 (a)
  • Jantzen, W.: Zum Verhältnis von Ideellem und Ideal. In: Jantzen und Siebert, 2003, 326‑340 (b)
  • Jantzen, W.: A.N. Leont’ev und das Problem der Raumzeit in den psychischen Prozessen. In: Jantzen und Siebert, 2003, 400-462 (c)
  • Jantzen, W.; Feuser, G.: Die Entstehung des Sinns in der Weltgeschichte. In: Jantzen, W.: Am Anfang war der Sinn. Marburg (BdWi-Verlag) 1994, 79‑113
  • Leont’ev, A.N.: Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit. Berlin (Volk und Wissen) 1979
  • Leont’ev, A.N.: Psychologie des Abbilds. In: Forum Kritische Psychologie 9 (1981), 5‑19.
  • Leont’ev, A.N.: Bedürfnisse, Motive, Emotionen. In: Mitteilungen der Luria-Gesellschaft 5 (1998) 1, 4‑32
  • Lotman, J. M.: Über die Semiosphäre. In: Zeitschrift für Semiotik 12 (1990) 4, 287-305
  • Mamardashvili, M.: Analysis of consciousness in the works of Marx. In: Studies in Soviet Thought 32 (1986), 101‑120.
  • Marx, K.: Thesen über Feuerbach. In: MEW 3. Berlin (Dietz) 1969
  • Marx, K.: Das Kapital. Erster Band. MEW 23. Berlin (Dietz) 1979
  • Marx, K.: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. MEW 42. Berlin (Dietz) 1983
  • Marx, K.; Engels, F.: Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW 4. Berlin (Dietz) 1972
  • Sève, L.: Marxismus und Theorie der Persönlichkeit. Frankfurt a.M. (VMB) 1973
  • Spinoza, B.: Abhandlung vom Staate, (TP), Hamburg: Meiner 5 1977
  • Spinoza, B.: Die Ethik. Hamburg (Meiner) 1989