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"Idea adaequata" und "imaginäre Realitäten":
zur Spinoza-Rezeption der Althusser-Schule

Motto:

Sphairos von Bosporos, der nach dem Tode Zenons ein Jünger des Kleanthes war, fuhr später, nachdem er viel Erfolg in den Wissenschaften gehabt hatte, nach Alexandrien zu Ptolemaios Philopater. Dort entstand einmal ein Zwist darüber, ob der Weise den falschen Meinungen ausgesetzt sei, worauf Sphairos antwortete, daß dies nicht der Fall ist. Der König wollte ihn überlisten und ließ aus Wachs hergestellte Granatäpfel auf den Tisch tragen. Sphairos hielt sie für richtige, und der König rief, daß sich Sphairos nun soeben eine falsche Vorstellung von diesen gemacht habe. Aber Sphairos antwortete sogleich, daß er diese nicht für Granatäpfel gehalten hätte, sondern für Etwas, wofür es Gründe gab, sie für Granatäpfel zu halten; denn eine kataleptische und eine begründete Vorstellung seien verschiedene Sachen.

Diogenes Laërtios, Vitae philosophorum, VII: 177

1. Althussers linksvoluntaristische Spinoza-Lektüre

Kann man sagen, Spinoza sei der radikal "Andere" und ein Außenseiter in der im 17. Jahrhundert einsetzenden Hauptströmung neuzeitlichen Denkens?

Eine solche These scheint jedoch der Spinoza-Deutung Louis Althussers und seiner Nachfolger zugrunde zu liegen. Als Althusser in den Éléments d'Autocritique die gegen ihn gerichteten Strukturalismus-Vorwürfe abzuwehren suchte, schrieb er:

"Wenn wir keine Strukturalisten waren, so können wir heute ruhig zugeben, weshalb: weshalb wir es zu sein schienen, aber es nicht gewesen sind


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[...] Wir haben uns einer ungleich stärkeren und kompromittierenderen Leidenschaft schuldig gemacht: wir waren Spinozisten". 1

Allerdings seien Althusser und seine Schüler "häretische Spinozisten" gewesen, indem sie dem Verfasser der Ethik Thesen unterstellten, die Spinoza selbst niemals zugegeben hätte, "obgleich er sie erlaubte". 2 Tatsache ist jedenfalls, daß Althusser und seine Anhänger in den Jahren 1960 - 1965 einen "Umweg" über Spinoza gemacht hatten, um "in der Philosophie von Marx etwas klarer zu sehen". 3

Das, was klarer gesehen werden mußte, war das Verhältnis des Marxismus zu Hegel. Es ging um die Klärung dessen, wie eine Dialektik Hegelscher Art materialistisch umgedeutet, "umgestülpt" und entmystifiziert werden konnte. 4 Die eigentliche Geburtsstätte der Mystifikation der Dialektik bei Hegel sei in seiner Theorie der Negation der Negation zu finden, da diese Prozedur eine Teleologie ins System hineinträgt, die vom materialistischen Standpunkt aus unstatthaft erscheint Nichts dergleichen bei Spinoza: er lehnt jedwede Teleologie ab und vermeidet damit die "Illusion des Subjekts". 5

Mit Hilfe Spinozas sollte also eine kritische Distanz zu Hegel gewonnen werden. Schon im Lire le Capital (1965), das Althusser zusammen mit Etienne Balibar und einigen anderen schrieb, weist er auf die "korrigierende" Funktion des Rückgriffs auf Spinoza hin:

"Damit kommen wir zum Wege, den vor uns - beinahe ohne unser Wissen, denn wir haben uns dazu nicht viele Gedanken gemacht, zwei Philosophen in der Geschichte eröffnet haben: Spinoza und Marx. In der Polemik gegen das, was ein latenter empiristischer Dogmatismus im Cartesianischen Idealismus zu nennen ist, unterstrich Spinoza, daß das Objekt (oder Wesen) der Erkenntnis etwas ganz Verschiedenes wäre als das Realobjekt und etwas ganz anderes, denn - um nun seine berühmten Worte zu wiederholen - man darf diese zwei Objekte nicht verwechseln: die Idee des Kreises (die das Erkenntnisobjekt ist) und den Kreis (der das Realobjekt ist)". 6 Nach Alt-


1 Althusser 1975, S. 70.

2 Ebd. S. 70.

3 Ebd. S. 71, 73.

4 Ebd. S. 74.

5 Ebd. S. 75.

6 Althusser & Balibar 1971, S. 46.


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husser habe Marx diese Unterscheidung im 3. Kapitel seiner Kritik der politischen Ökonomie "in ihrer vollen Kraft" wieder eingeführt. 7

Der Anschluß an Spinoza war bei den Althusserianem nicht durch irgendwelche zufälligen Sympathien bedingt, sondern entsprach den programmatischen Absichten dieser Schule. Der Begriff "Schule" ist natürlich verschieden auslegbar, und viele, die noch in den 70er Jahren für Althusserianer galten, lehnten später eine solche Charakterisierung ab. Unstreitig ist jedoch, daß die Arbeiten von Balibar, Macherey, Lecourt u.a., die in der von Althusser selbst herausgegebenen Reihe "Collection Théorie" beim Pariser Maspero Verlag erschienen, viele gemeinsame Züge aufweisen. So charakterisiert z.B. Klaus Thieme die Althussersche Position wohl richtig, wenn er bemerkt, daß "das an Hegel orientierte Verständnis der marxistischen Dialektik [...] und der unentwegten Rekonstruktion der 'Umstülpung' der Hegelschen Dialektik für Althusser strukturell der Hegelschen und das heißt für ihn: einer ideologischen, vorwissenschaftlichen Problematik verbunden bleibt Der radikale Bruch mit dieser Problematik wäre der Bruch mit der 'bürgerlichen' Ideologie und ihren Erscheinungsformen Idealismus, Empirismus, Spekulation". 8

Neben Althusser hat sich zum Fall Spinoza Pierre Macherey geäußert, dessen Werk Hegel ou Spinoza im Jahre 1979 erschien, wie Pierre-François Moreau, der vier Jahre zuvor eine populäre, gut geschriebene Spinoza-Biographie in der Reihe Écrivains de toujours des Seuil-Verlags herausgab. Der Althusser-Schule im engeren Sinne wäre aber auch Etienne Balibar zuzurechnen, der besonders die politische Philosophie Spinozas studiert hat, 9 doch bleibt er außerhalb des Rahmens dieser Untersuchung, da uns hier vor allem die erkenntnistheoretische Seite der Interpretation der Althusser-Schule interessiert.

Es ist natürlich hervorzuheben, daß die Verfasser, die wir hier im folgenden kritisch prüfen werden, heute sicherlich auch selbst manches in ihren früheren Positionen als überholt betrachten. Doch scheint es, daß man ungeachtet aller Kritik und Selbstkritik den eigentlich problematischen Kern der Althusserschen Spinoza-Deutung noch nicht erfaßt hat. Darauf deutet z.B. die neuerliche Popularität des Spinozismus durch Deleuze, der eine Streife in der nach dem Zusammenbruch des Althusser-Marxismus einsetzenden "postmodernistischen" Strömung bildet Viele Grundpositionen die-


7 Ebd. S. 46.

8 Thieme 1982, S. 25 f.

9 Siehe z.B. Balibar 1985.


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ser poststrukturalistischen Spinoza-Lektüre sind nämlich, trotz Differenzen an der Oberfläche, den Thesen der Althusserianer ganz ähnlich - wie die Kritik an der Korrespondenztheorie der Wahrheit, das Insistieren auf der Kraft der Negativität und auf dem "nietzscheanisierenden" Voluntarismus.

Im allgemeinen kann man nicht vorbehaltlos von einer "Schule" Althussers reden, auch nicht im Perfekt, denn wie bekannt haben schon Althussers eigene Meinungen zahlreiche Wandlungen durchlaufen, und Schriftsteller wie Macherey, Balibar, Lecourt u.a. haben ihre Ansichten selbständig weiterentwickelt Dennoch haben alle hier in Betracht kommenden französischen Spinoza-Interpreten etwas Gemeinsames, das sie von Althusser (oder genauen vom Althusser Mitte der 70er Jahre) geerbt zu haben scheinen. Dieses Gemeinsame läßt sich in einer ersten kritischen Annäherung als die These definieren, daß die Ideologie "materiell" ist, und dementsprechende erkenntnistheoretische Suppositionen impliziert.

Spinoza hat - Althusser zufolge - gegenüber Hegel den Vorzug, daß er einer der ersten Theoretiker der Ideologie ist. 10 Mit dem Begriff der Ideologie meint die Althusser-Schule etwas anderes als der "traditionelle" Marxismus. Mit gewissen Einschränkungen 11 kann man sagen, daß die von Althussers eigener Partei (PCF) verfochtene Lehre, der leninistische Marxismus, eben die Linie der Ideologietheorien fortsetzt, die mit der Idolen-Lehre Francis Bacons anfängt und die die Ideologie als gesellschaftlich bestimmtes und determiniertes falsches Bewußtsein betrachtet. Dies war der Standpunkt der Aufklärung: so übersetzte zum Beispiel Condillac den Baconschen Terminus "idolus" als "Vorurteil" (préjugé).

Die Althusser-Schule bricht mit dieser Tradition, denn nach ihr ist die Ideologie nicht schlechthin als "falsches Bewußtsein" zu begreifen. Sie sei vielmehr eine materielle Kraft Hatte Althusser früher der traditionellen aufklärerisch-marxistischen Ideologie-Konzeption näher gestanden, so stellt er ab Mitte der 70er Jahre die Behauptung auf, daß die Ideologie eine "materielle Existenz" habe. Er weist in diesem Zusammenhang auf Blaise Pascal hin, dem wir "jene grossartige Formulierung" verdanken, "die es uns ermöglichen wird, die Ordnung des traditionellen Begriffsschemas der Ideologie umzustülpen. Pascal sagt ungefähr folgendes: 'Knie nieder, bewege die Lippen zum Gebet, und Du wirst glauben'". 12 Katholischer Glaube be-


10 Althusser l975, S. 75 f.

11 Was diese Einschränkungen und übrigens das Verhältnis des marxistischen Ideologie-Begriffs zu dem der Aufklärung betrifft, siehe Sandkühler 1985, S. 23-43.

12 Althusser 1977, S. 138.


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steht nicht bloß aus geistigen Inhalten. Er ist eine bestimmte, materielle Art des Benehmens; insofern existiert er in den Handlungen dessen, der glaubt

Auf den ersten Blick erscheint Pascals Standpunkt verblüffend modern, läßt er uns ja sofort an verschiedene Experimente und Therapien im Gefolge Pawlows denken, in denen man sich auf das Konditionieren des körperlichen Verhaltens konzentriert, anstatt zu versuchen, auf Denkgewohnheiten Einfluß zu nehmen. Auch würde es zu Althussers "subjektlosem" Standpunkt gut passen, sich einen derartig vulgärmaterialistisch anmutenden Behaviorismus anzueignen. Doch der Eindruck täuscht: Solche Ideen sind keineswegs eine Prärogative unseres Jahrhunderts und auch Pascal ist hier nicht so originell wie man glaubt. Die Konditionierung (oder, wie Pascal es nannte, das "Abêtir") ist eine in der Praxis verschiedener Religionen seit alters her bekannte Technik. Auch die berühmten Excercitia spiritualia von Loyola und der Jesuiten sind eine Form dieser Konditionierungstechnik.

Wie dem auch sei, ähnliche Ansichten waren in den 70er Jahren in der Theoriediskussion der europäischen Linken en vogue. Eine der Althusserschen nahestehende Variante der Ideologie-Konzeption war u.a. bei dem von W.F. Haug geleiteten "Projekt Ideologie-Theorie" zu finden, zumindest in seiner Version von 1979, wo die Ideologie als "Vergesellschaftung von oben" und mithin Ausübung realer Klassenmacht definiert wurde. 13 Man suchte damals allgemein Alternativen zum verknöchert empfundenen "Parteimarxismus" - auch der Aufstieg und Fall des Eurokommunismus gehören in diese Periode. Gewiß war die suchende Haltung berechtigt, doch zeigt das Schicksal vieler dieser "linken" Entwürfe exemplarisch, wie man oft in die Charybdis des Voluntarismus geriet, indem man der Szylla des Dogmatismus entkommen wollte. Althusser und seine Anhänger repräsentierten in den 70er Jahren die Positionen der äußersten Linken innerhalb der Kommunistischen Partei Frankreichs, was, wie bei Althusser, gelegentlich auch zum Hirt mit dem Maoismus führte oder zum regelrechten Übergang zum ultralinken politischen Aktionismus, wie bei einigen seiner Schülern. 14

Ihre vom "traditionellen" Marxismus abweichende Ideologie-Deutung knüpft organisch an die "linke" Neubewertung ideengeschichtlicher Quellen des Marxismus an - vor allem der Bedeutung der Hegelschen Dialektik. Es war sachlich gut motiviert, eine ablehnende Haltung gegenüber den verkrusteten, vom Stalinismus deformierten Formen des Parteimarxismus


13 Vgl. dazu Metscher 1984, S. 232.

14 Vgl. z.B. Benton 1984, S. 17 ff., 83 ff.


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einzunehmen, doch gingen die Althusserianer dabei ins entgegengesetzte Extrem über: der Meister aus Jena habe an allem schuld, darum sei es mit einer materialistischen Umstülpung Hegelscher Dialektik nicht getan. Man müsse radikal ans Werk schreiten und solche hegelianisierende Prozeduren wie die Negation der Negation ganz aus dem philosophischen Denken ausmerzen.

Diese Haltung führte in bezug auf die Dialektik zu folgenden Positionen:

1) Philosophie (Dialektik) und Wissenschaft sind verschiedene Sachen; die Philosophie ist nicht wissenschaftlich.

2) Materialismus und Dialektik sind trennbar; Materialismus ist der Dialektik gegenüber primär. Daraus folgt, daß die Dialektik nicht die Bewegungsform der Materie selbst darstellt, sondern sekundäre, "topische" Figuren wiedergibt (Dies ist eigentlich nur die Umformulierung der These von der strikten Trennung des Real- und Erkenntnisobjekts.)

3) Eine materialistische Dialektik muß die "humanistische" Illusion des Subjekts aufgeben - eine Illusion, die sich bei Hegel ins Gewand der immanenten Teleologie verkappte.

4) Es gibt keine Negation der Negation. 15

5) Statt eines Hegelschen Widerspruchsbegriffs sollte man davon ausgehen, daß alle Widersprüche gleichrangig und im Kontext eines Systems "überdeterminiert" sind. 16

Ich behandle die Dialektik-Interpretationen der Althusser-Schule genauer im Essay "Spinoza, ein Dialektiker wider Hegel". Hier konzentriere ich mich auf die erkenntnis- und wahrheitstheoretischen Probleme, die sich aus dem "linken" Voluntarismus der Althusserianer ergeben.


15 Vgl. Althusser 1980, S. 220: "Die Negativität kann nicht das bewegende Prinzip der Dialektik, die Negation der Negation enthalten", denn die Negation der Negation ist nur "eine Abstraktion", worin die Veräußerung der ursprünglichen Einheit aufgehoben wird. Die Hegelsche Arbeit des Negativen entpuppt sich als Arbeit des Endzwecks.

16 Ebd. S. 223. Althussers Standpunkte - von denen wir hier nur die wichtigsten aufzählten - werden ausführlicher referiert u.a. im Aufsatz von Thoma-Herterich 1977, S. 159-191. Vgl. auch Grimm 1980, S. 43 ff., besonders S. 46 f. – Bemerkenswert ist, daß in der ausufernden Althusser-Literatur seine Dialektikkonzeption weniger besprochen wird: das Interesse der Interpreten konzentriert sich vorwiegend auf Fragen des Historischen Materialismus, der Ideologietheorie, Marx-Auslegung usf.


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2. Verwandte Tendenzen in der Philosophie der 60er bis zu den 80er Jahren

Nicht nur die Althusserianer, sondern auch andere, in ähnlicher Weise "linksvoluntaristisch" einzustufende Philosophen hatten zur gleichen Zeit Spinoza entdeckt Carlo Vinti vergleicht die Bemühungen Althussers mit ähnlichen Ansätzen bei Gilles Deleuze (dessen politische Haltung aber sehr diffus ist) und Antonio Negri, dem Theoretiker der italienischen "Autonomen Linken" der "anni di piombo". "Es ist kurios zu sehen", schreibt Vinti, "wie bei Althusser und anderen die materialistische und kritische Instanz des Spinozismus zum Abbau des Marxismus als dialektischer Materialismus benutzt wird". 17

In der Tat unternimmt Negri in seinem 1981 erschienenen Werk L'anomalia selvaggia den grossangelegten Versuch, auf Grund des Spinozismus eine neue materialistische Theorie der Politik zu begründen. Dabei knüpft er besonders an den Althusser-Schüler Pierre Macherey an, der "nicht nur im Hegelschen Spinoza-Verständnis grundlegende Verfälschungen" aufgezeigt habe, sondern auch auf "die im Denken Spinozas angelegte vorweggenommene Kritik der Hegelschen Dialektik und eine Begründung der materialistischen Methode aufmerksam" mache. 18 Neben Macherey ist auch die Interpretation des "von einem anderen Ausgangspunkt her" aber "mit vielleicht noch größerer Erneuerungskraft" arbeitenden Gilles Deleuze für Negri wichtig. Deleuze, der in seinen anderen Werken um die Rehabilitation Nietzsches bemüht gewesen ist, habe bei Spinoza neue Horizonte eröffnet: der Materialismus sei "als Raum für die Vielfalt und die konkrete Befreiung des Wunsches als konstruktivem Vermögen wiedergewonnen". 19

Spinoza stellt nach Negri das Problem der Demokratie auf den Boden des Materialismus. 20 Das geschehe im Kontext der "Produktionsproblematik", die ontologisch fundiert ist. Die konstitutive Dynamik des Seins liegt im Begriff der potentia, daraus schreitet man zum Conatus, davon zum Subjekt, dessen Tätigkeit von Negri spontaneistisch verstanden wird. 21 Dabei interpretiert er den marxistischen Begriff der menschlichen Praxis in


17 Vinti 1984, S. 155.

18 Hier und im folgenden wird nach der deutschen Ausgabe zitiert: Negri, 1982, S. 12.

19 Ebd. S. 12.

20 Ebd. S. 10.

21 Ebd. S. 166-178.


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"potentia" um und lobt Spinozas Radikalismus, der für den bornierten Bourgeoisliberalen unerträglich sei. 22 Vor allem liefere die Philosophie Spinozas eine Abrechnung mit der "geheiligten Lehre", nach der die Demokratie ein Rechtsstaat sei, das Allgemeininteresse "sublimiere" wie das Einzelinteresse "und dergleichen Scherze mehr". Diesen Theorien gegenüber plädiere Spinoza für eine Freiheit, die die Welt "unmittelbar und direkt" aufbaut - die gesellschaftliche Vielfalt ist nicht durch das Recht, sondern durch den "konstitutiven Prozess" allein vermittelt. 23 Mit anderen Worten: Demokratie à la Spinoza ist - nach der im Geiste des Aktionismus der 70er Jahre gemachten Deutung Negris - "die Politik der Massen, die sich in der Produktion organisieren". 24

Aber Spinoza nehme nicht nur den politischen Spontaneismus unseres Jahrhunderts vorweg; er sei auch ein Beweis dafür, daß es in der Geschichte der Metaphysik "radikale Alternativen" 25 gebe. Das Denken Spinozas ist eben deshalb eine "wilde Anomalie", weil es gegen die bürgerliche Produktionsweise schon in ihren Anfängen im 17. Jahrhundert opponierte und so die Möglichkeit biete, über die bürgerliche Tradition hinauszugehen. 26 Spinoza definiere nämlich "in radikaler Weise eine 'andere' Rationalität als die der bürgerlichen Metaphysik". 27 Dies impliziert eine Ablehnung der Dialektik, denn "die Dialektik ist in Wirklichkeit die Form, in der sich die bürgerliche Ideologie und all ihre Varianten selbst präsentieren". 28

Wie man sieht, holt Negri aus dem Spinozismus weitaus praktischere und unvermitteltere Anleitungen zum politischen Handeln als die Althusser-Schule. An einer Stelle gesellt Negri daher seinem Lob an Macherey wegen dessen Halbherzigkeit später auch Tadel zu: obgleich Macherey "besser als alle anderen Interpreten den Abstand Spinozas zum dialektischen Denken betont" habe, ist er im Rahmen seiner kritischen Einstellung geblieben und nicht zur Definition, des dem Spinozismus eigenen "konstitutiven Horizonts" vorgestossen. 29


22 Vgl. ebd. S. 180.

23 Ebd. S. 13 f.

24 Ebd. S. 10.

25 Ebd. S. 11.

26 Ebd. S. 11.

27 Ebd. S. 14.

28 Ebd. S. 35.

29 Ebd. S. 276.


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Dessenungeachtet gibt es einerseits bei Althusser und Macherey, andererseits bei Negri eine gemeinsame Tendenz: die Betonung der "Andersheit" Spinozas. In der Philosophie des niederländischen Einzelgängers wird eine Antithese zur gesamten bürgerlichen Denktradition erblickt Wenn wir diese Interpretation als "ultralinke" und nicht nur einfach "radikale" bezeichnen, wollen wir damit sagen, daß die allgemeinmenschlichen Momente im bürgerlichen (d.h. neuzeitlichen) Denken nicht berücksichtigt werden: die Leistungen der Denker dieser Periode werden auf ihre Klassenpositionen reduziert. 30 So weist Negri sowohl die "klebrige 'demokratische' Suppe des normativen Hobbesschen Transzendentalismus" wie auch den "Rousseauschen Gemeinwillen" und die "Hegelsche Aufhebung" empört zurück. 31

Starker an Deleuze erinnert wiederum die spontaneistische Art der Negrischen Spinoza-Lektüre. Dieser gesteht selbst, daß seine Arbeit "ohne die von Deleuze unmöglich" wäre, 32 mit welch Letzterem wir uns wie-


30 Der Begriff "allgemeinmenschlich" tauchte in der sowjetmarxistischen Diskussion unmittelbar vor und während der Perestroika auf. Damit wollte man die frühere einseitige, aus der Stalinschen Periode überlieferte Betonung der Klassenzugehörigkeit bei philosophiegeschichtlichen Bewertungen überwinden. Die These, daß es einen "allgemein menschlichen" Ansatz im philosophischen Erbe gibt, trotz zeit- und klassenbedingter Beschränktheit seiner Träger, läuft tatsächlich auf die Anerkennung einer sich ständig bereichernden Philosophia perennis in der Geschichte der Menschheit hinaus. Damit nahm nicht nur die bis Mitte der 80er Jahre im Sowjet-marxismus übliche Verfahrensweise ein Ende, die Geschichte der Philosophie in "vormarxistische" und "marxistische" Phasen zu unterteilen. Auch die ideengeschichtliche Kontinuität überhaupt wurde auf eine ganz andere Weise wie zuvor anerkannt - Eben die Verneinung der Kontinuität zeichnet die "ultralinke" Position aus. Das Moment des Bruchs in der Entwicklung des Denkens wird verabsolutisiert und so gelangt man zur These von einander ausschließenden Formen der Wissenschaft (wie die berüchtigte Lehre Lyssenkos von den "zwei Wissenschaften", der bürgerlichen und der proletarischen). Wenn wir von "ultralinken Positionen" reden, weisen wir also auf dieses Bruch-Denken hin, das der Dialektik feindlich gegenübersteht' statt der Negation der Negation folgt es dem Schema der einen Negation. (Ober die Diskussion zu diesem Thema siehe meinen Aufsatz 'Die sowjetische Philosophie erneuert sich', in: Dialektik 18, 1989, S. 344-359.) - Negri und die Althusserianer, die im Spinozismus eine für die Radikalen passende Philosophie des "ganz Anderen" sehen, kommen der alten These des Stalinschen Hofphilosophen Mark Mitin bedenklich nahe, daß sich die proletarische Philosophie des Marxismus vom bürgerlichen Denken grundlegend unterscheide.

31 Negri, a.a.O., S. 10.

32 Ebd. S. 276.


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derum in einem eigenen Kapitel beschäftigen werden. So sei es etwa ein typisch deleuzianischer Zug bei Negri, daß die "Intensität" das Dialektische ersetzen darf. So schreibt er z.B., daß "die Dynamik des Übergangs zu einer nachfolgenden, höheren Stufe des Seins bei Spinoza nicht die Negation" vorsieht und "auch nicht die starre formale Beständigkeit des dialektischen Prozesses". 33 Das Sein ist zuallererst als Produktion zu denken, 34 aber ohne dialektische Vermittlungen.

Negris Spinoza-Buch ist vor allem deswegen interessant, weil es deutlicher als irgendein anderes Werk die politischen Konsequenzen zeigt, in die sowohl die Althussersche als auch Deleuzianische Spinoza-Lektüre ausmünden. Zugleich ist Negris L'anomalia selvaggia durch und durch ein Produkt der westeuropäischen linken Szene der 70er Jahre; heute scheint das Buch ebenso antiquiert wie die von den Althusserianern zur gleichen Zeit vertretene "Linie" in der Philosophie. Das Gleiche läßt sich von Deleuze nicht sagen: Möglicherweise wird seine Spinoza-Lektüre erst heute Mode. Falls dies stimmt, möchte man zur Annahme neigen, daß sein spontaneistischer Radikalismus in der gegenwärtigen Situation eher rechte denn linke Obertöne erhalten würde.

3. Eine Machiavellische Regel und ihre Folgen

In der voluntaristischen Spinoza-Deutung Althussers gibt es noch ein Moment, das besondere Beachtung verdient. Althusser hatte nämlich als seine Richtschnur - und auch hier kommt seine Position der Negris nahe - den "Standpunkt des Unmöglichen", Machiavellis, eingenommen. 35

Machiavellis selten ausgesprochene, aber immer praktizierte "methodische Regel" bestand nach Althusser darin, daß man "an die Extreme denken müsse". Darunter sei zu verstehen, daß "man in einer Position, in der man Thesen ausspricht, die an die Grenzen des Verständlichen (thèses-limites) stoßen, die Stelle des Unmöglichen einnehmen muß, um das Denken möglich zu machen". 36 Um etwas in der Geschichte seines Landes zu verändern, erklärt Machiavelli indirekt, "daß man auf seine eigenen Kräfte bauen müsse, d.h. in diesem Falle auf nichts, weder auf einen existierenden Staat, noch


33 Ebd. S. 182.

34 Ebd. S. 252.

35 Vgl. Schweicher 1980, S. 107.

36 Althusser 1977, S. 56.


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auf einen Prinzen, sondern auf das nichtexistierende Unmögliche: einen neuen Prinzen in einem neuen Staat". 37

Doch indem Althusser derart seine Sache auf das Nichts stellt, ist er weit machiavellistischer als Spinoza. Spinoza bewunderte bekanntlich den "acutissimus Florentinus", hatte Machiavelli es doch verstanden, die Menschen so zu betrachten, wie sie sind und nicht, wie sie sein sollten. Spinoza hegte jedoch auch Bedenken gegenüber Machiavelli. Dieser habe zwar meisterhaft die Mittel dargelegt, welche ein Fürst in seiner Politik anzuwenden habe; "in welcher Absicht er es aber getan", fährt Spinoza fort, "ist nicht recht klar" (Tract. pol. V. § 7; G III S. 296). Trotzdem stand Machiavelli doch "auf Seite der Freiheit". 38

Das Althussersche Machiavelli-Bild ähnelt dagegen viel mehr der Skizze Nietzsches in Götzen-Dämmerung: "Thukydides und, vielleicht, der principe Machiavells sind mir selber am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, sich nichts vorzumachen und die Vernunft in der Realität zu sehn, - nicht in der 'Vernunft', noch weniger in der 'Moral'..." 39 Das für Althusser methodisch wichtige Bauen auf die "eigenen Kräfte", Bauen "auf Nichts" heißt also bei Nietzsche "unbedingter Wille", durch den machiavellistischen Fürsten an den Tag gelegt. Damit entpuppt sich die methodische Regel des "Denkens an die Extreme" als das Credo des heroischen "Titanismus" italienischer Renaissance-Persönlichkeiten: die objektiven Verhältnisse scheinen unbeweglich, trotzig aber will das Subjekt das Unmögliche versuchen.

Es ist seltsam, daß Althusser, der immer wieder den Materialismus betonen will, von Machiavelli eben diese "Regel" übernimmt, die keineswegs zu den stärksten Seiten der Lehre des sonst so scharfsinnigen Florentiners gehört. Wie Frank Deppe bemerkt hat, liegt hier eine "strukturelle Erkenntnisschranke" Machiavellis vor, nämlich die Illusion der "reinen Politik". Der


37 Ebd. S. 56.

38 Auch Carla Gallicet neigt in seiner Studie zur Annahme, daß Spinoza Machiavelli "wohlwollend" hat deuten wollen, als einen Verteidiger der Freiheit (Gallicet Catvetti 1972, S. 198 ff.). Remo Bodei hebt die italienische Diskussion zusammenfassend hervor, daß Spinoza nie die Machiavellische "duplicazione del reale nell'apparenza" und politische Nutzung des "Scheins" hat akzeptieren wollen; vgl. Bodei 1991, S. 131 ff.

39 Nietzsche 1930:II, S. 207. Das Machiavelli-Bild Nietzsches scheint weniger der Lektüre von Machiavelli selbst verpflichtet zu sein denn Arthur de Gobineaus "historischen Szenen", in denen u.a. das "gesunde Raubtier" Cesare Borgia als Typus des machiavellistischen Fürsten vorgestellt wurde. Siehe dazu Nolte 1990, S. 128 ff.


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"Glaube an die Kraft des politischen Aktivismus [...] abstrahiert von den objektiven gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen und ‑möglichkeiten". 40 Machiavellis voluntaristisch-aktivistische Empfehlungen würden nicht organisch aus seinen unsentimental materialistischen Analysen folgen; im Gegenteil. Sie stellten einen Bruch dar. Und wenn Althusser nun in seiner philosophischen Selbstdarstellung ein paar Seiten später sich wieder auf Spinoza beruft, entstehen Probleme, weil der Voluntarismus der Machiavellischen Regel sich nicht mit dem Determinismus Spinozas zusammenreimt. Das eine oder das andere muß weichen, und bei Althusser geschieht es meistens so, daß der Voluntarismus die Oberhand behält.

Es ist wiederum Negri, der den "Standpunkt des Unmöglichen" weiter bearbeitet hat. Spinoza gehöre zur Tradition einer Fundamentalopposition gegen existierende Mächte. Nach Negri ist der Spinozismus "ein Denken, das umso negativer ist, je progressiver und konstitutiver es wird. In dieser exemplarischen Spinozianischen Erfahrung verdichtet sich die ganze antagonistische Problematik des innovativen Denkens der Neuzeit, die populistische und proletarische Entstehungsgeschichte ihrer Revolutionen und die ganze Reihe der republikanischen Positionen von Machiavelli bis zum jungen Marx". 41

Zwar war auch Spinozas Ideal ein vir fortis, bei dem Wissen, Tugend und Kraft eins waren; es stimmt zudem, daß es "ebenso schwer wie selten" war, dieses Ideal zu erreichen (Eth. V.42 schol.). Trotzdem muß man - gegen Althusser und Negri - feststellen, daß die "Andersheit" des spinozistischen Weisen keineswegs das Annehmen des "Standpunkts des Unmöglichen" bedeutet, geschweige denn, daß es sich um einen Cesare Borgia-Typus handelt. Der freie Mensch, der unter Unwissenden leben muß, sucht sich zwar von diesen so weit wie möglich abzugrenzen und unabhängig zu leben (IV.70), aber dieses Stehen zur Unabhängigkeit hat nicht solche nietzscheanisch gefärbte Untertöne, wie die Althussersche oder Negrische Interpretation es ihm zu unterstellen strebt. Der Weise Spinozas stellt sich nicht


40 Deppe 1987, S. 125.

41 Negri a.a.O., S. 11. Negri scheint sich hier an die bis auf Gramsci zurückgehende italienische Deutungstradition anzulehnen, die in Machiavelli einen Revolutionär und frühen Jakobiner erblickte. Frank Deppe aber lehnt eine solche Konstruktion ab. Das italienische "Volk" des frühen 16. Jahrhunderts war keine "revolutionäre Klasse", wie Gramsci unterstellte, und Machiavellis völlig unrealistische "Beschwörung des neuen Fürsten und des günstigen Zeitpunktes" signalisiert eben "eine Konstellation, in der keine gesellschaftliche Klasse über die Kraft und den Willen verfügte, einen 'neuen Staat' zu gründen" (Deppe, ebd. S. 427 f.).


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außerhalb der Menschheit oder über sie, er wird vielmehr zu seiner Isolation gezwungen, sie ist nicht die Folge seiner willentlichen Abgrenzung.

Nach Spinoza resultiert der Gegensatz zwischen der Menge und dem Weisen vor allem aus dem leidlichen Gesellschaftszustand, in dem die meisten Menschen leben. Prinzipiell könnte die Sache auch anders sein. Gerade deswegen kann der Weise nicht in einer völligen Isolation leben - "denn wenn die Menschen auch unwissend sind, so sind sie doch Menschen", wie Spinoza im Scholion zu Proposition IV.70 hinzufügt.

Der Weise ist also nicht "anders" als die übrigen Menschen, ganz im Gegenteil: "Das höchste Gut derer, welche der Tugend folgen, ist allen gemein und alle können sich dessen in gleicher Weise erfreuen" (Eth. IV.36). Wer der Tugend folgt, wünscht auch den übrigen Menschen das Gute, das daraus entspringt (IV.37). In diesem Sinne beruht das Spinozistische Programm der Befreiung darauf, zu zeigen, was die allen Menschen gemeinsame Vernunft vermag (Eth. V. praef.), und nicht auf dem voluntaristischen Unmöglichkeits-Standpunkt.

4. "Spinozistisch" untermauerte Ideologie-Theorie

Nach Althusser sind also die Ideologien als eine materielle Kraft anzusehen. Er schreibt:

"Im Gegensatz zur gesamten rationalistischen Tradition, die nur eine gerade Idee braucht, um eine gebogene Idee zu berichtigen, geht der Marxismus davon aus, daß Ideen nur insofern eine historische Existenz haben, als sie erfaßt und einverleibt sind in der Materialität der sozialen Verhältnisse. Hinter den Verhältnissen zwischen einfachen Ideen gibt es also Kräfteverhältnisse, die bewirken, daß die einen Ideen an der Macht sind (was man grob gesprochen als die herrschende Ideologie bezeichnet) und daß andere Ideen ihnen unterworfen bleiben (was man als die beherrschte Ideologie bezeichnet)". 42

Nach Perry Anderson hat Althusser, um "eine neue theoretische Perspektive innerhalb des Marxismus zu entwickeln", Freud benutzt und psychoanalytische Konzepte und Begriffe in philosophische transformiert. Vor allem habe Althusser "den Freudschen Begriff des Unbewußten übernom-


42 Althusser 1977, S. 56.


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men, um daraus eine neue Theorie der Ideologie zu konstruieren". 43 Die Beobachtung Andersons stimmt, doch muß sie dahin präzisiert werden, daß die Quellen des Althusserschen Ideologie-Begriffes in der französischen strukturalistischen Variante der Psychoanalyse, nämlich im Oeuvre von Jacques Lacan zu suchen sind, wie Bodo Grimm in seiner detaillierten Studie 44 nachgewiesen hat

Als Folge erhält die Ideologie in den Händen Althussers ähnliche "ichlose" Qualitäten wie das Freudsche Unbewußte: sie hat keine Geschichte, weil sie - wie auch das psychologisch verstandene Unbewußte - in ihrer Struktur unveränderlich ist. Die Permanenz der Ideologie als ein Mittel und Träger der Illusion sei eine notwendige Folge ihrer gesellschaftlichen Funktion, "Zement der sozialen Kohäsion" zu sein. "For Althusser", setzt Anderson fort, "the reason why it [die Ideologie - V.O.] was inescapable as an ensemble of false beliefs and representations was that all social structures were by definition opaque to the individuals occupying posts within them". So sei die Ideologie im Althusserschen Sinne letzten Endes nichts anderes als ein "unconscious medium of lived experience", 45 also eine Art zum Status des gesellschaftlichen Bewußtseins gehobenes Unbewußtes.

So richtig diese Kritik an Althussers Ideologie-Begriff auch sein mag, der Nachweis seines psychoanalytisch-lacanianischen Ursprungs ist natürlich nicht zureichend. Denn die Leistung Althussers bestand eben darin, aus der strukturalistischen Psychoanalyse entnommene Begriffe philosophisch zu interpretieren. Will man also gegen Althusser argumentieren, muß dies philosophisch kompetent durchgeführt werden.

Dem ersten Anschein nach scheint die Äußerung Althussers, daß die Ideologien und Ideengebilde intim mit der "Macht" verknüpft sind, nicht sonderlich vom sogenannten traditionellen Marxismus abzuweichen - haben die Klassiker des Marxismus nicht immer wieder betont, daß man hinter Ideen ihre materiellen Träger, vor allem bestimmte Klassenkräfte, suchen muss?

Allerdings vollzieht Althusser eine wesentliche Modifikation dieses traditionellen Standpunktes: eine Modifikation, die anfangs leicht übersehen wird, die aber, wie es sich erweist, im weiteren alle seine theoretischen Entwicklungen bestimmt Indem Althusser psychoanalytisches und struktu-


43 Anderson 1976, S. 84.

44 Grimm 1980, vor allem S. 157 ff.

45 Anderson, a.a.O., S. 85.


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ralistisches Gedankengut in seine Theorie einführt, wird der Marxismus dadurch nicht ergänzt, sondern in seinem philosophischen Kern erheblich verändert. Mit seiner "Theorie des Kräfteverhältnisses" deutet Althusser auf entscheidende Weise die marxistische Wahrheitstheorie um. Nach ihm ist die Frage nach der Wahrheit nicht mehr die, ob das Denken der Wirklichkeit entspricht.

Diese Modifikation tritt deutlich an der Stelle zutage, wo Althusser sich in seinen Gedanken auf die Zeugenschaft Spinozas beruft:

"Ich bestreite nicht, daß ich mich in dieser Sache sehr stark auf Spinoza gestützt habe. Ich sagte soeben, daß Marx Hegel nahestand wegen dessen Kritik am Gedanken einer Erkenntnistheorie. Aber diese Hegelsche Kritik gibt es bereits bei Spinoza. Was sagt Spinoza im wesentlichen, wenn er den berühmten Satz schreibt: 'Habemus enim ideam veram'? daß wir eine wahre Idee haben? Nein: der gesamte Satz betrifft das 'enim'. Weil wir nämlich und nur weil wir eine wahre Idee haben, können wir andere Ideen produzieren, die ihrer Norm entsprechen. Und weil wir nämlich und nur weil wir eine wahre Idee haben, können wir wissen, daß sie wahr ist, denn sie ist 'index sui'. Woher bekommen wir die wahre Idee? Das ist eine ganz andere Frage. Aber es ist eine Tatsache, daß wir sie haben (habemus), und woraus diese Tatsache auch immer resultieren mag, sie bestimmt alles, was über sie und von ihr ausgehend gesagt werden kann. Damit macht Spinoza jede Erkenntnistheorie, die über das Recht zu erkennen räsonniert, im voraus abhängig von der Tatsache der gewonnenen Erkenntnis. Damit werden sämtliche Fragen des Ursprungs, des Subjekts und des Rechts der Erkenntnis, die den Erkenntnistheorien zugrundeliegen, zurückgewiesen". 46 Nach Althusser untersucht Spinoza nicht den Ursprung oder das Subjekt der Erkenntnis, sondern bestimmt lediglich deren Prozess. 47

Und in den ein Jahr früher (1974) verfaßten Éléments d'Autocritique hebt Althusser mit aller Deutlichkeit hervor, daß sich diese Kritik Spinozas an jeder Erkenntnistheorie wohl auf "die erste jemals gedachte Theorie der Ideologie" gründe. "Im Anhang zum Ersten Buch der 'Ethik' und im Theologisch-Politischen Traktat' finden wir", laut Althusser, nun diese Ideologietheorie "mit ihren drei Merkmalen: 1) ihrer imaginären 'Realität', 2) ihrer inneren Umkehrung, 3) ihrem 'Zentrum': der Illusion des Subjekts". 48 Bemerkenswert sei vor allem, daß Spinoza sich weigerte, "die


46 Althusser 1977, S. 71.

47 Ebd. S. 71.

48 Althusser 1975, S. 75.


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Ideologie als puren Irrtum oder als nackte Ignoranz zu kennzeichnen"; vielmehr existieren die Illusionen objektiv, und so sei der Standpunkt Spinozas ein "Materialismus des Imaginären". Darunter ist zu verstehen, daß die "erste Erkenntnisart" Spinozas, nämlich die Imagination, alles andere als eine Erkenntnis ist, "vielmehr die materielle Welt der Menschen, so wie sie leben" 49 - das heißt, die Ideologie ist eine materielle Kraft.

In gewisser Hinsicht ist die Behauptung Althussers stichhaltig, daß hinter den Beziehungen von Ideen bei Spinoza Kräfteverhältnisse stecken. Das Denkvermögen ist nämlich - laut Spinoza - eine direkte Funktion des körperlichen Tätigkeitsvermögens. Je mehr "potentia agendi" der Körper besitzt, desto mehr "potentia cogitandi", d.h. Denkvermögen hat die Seele (vgl. Eth. III.11). Wenn aber nun Spinoza den Adäquatheitsgrad menschlichen Denkens in direkte Abhängigkeit von der Kraft des Körpers, aktiv zu sein, setzt, bedeutet dies zugleich - wie Althusser insistiert - daß die Frage nach dem, woher die wahren Ideen kommen, eine Nebensache für Spinoza ist?

Vor allem: Was meinte Spinoza, als er sagte, daß wir eine wahre Idee schon haben? Die Stelle, die Althusser zitiert, befindet sich im Tractatus de intellectus emendatione und dort erläutert Spinoza die Sache nicht näher. Aber das bedeutet mitnichten, daß der Ursprung dieser wahren Idee für ihn weniger wichtig gewesen wäre. Aus der Ethik geht hervor, daß diese "wahre Idee" nichts anderes ist als die Idee Gottes (idea Dei), die notwendigerweise in jeder menschlichen Seele präsent ist, denn die menschliche Seele ist ein Teil des unendlichen Intellekts Gottes (Eth. II.11; II.47 mit Scholie). Nach Spinoza sind somit "das unendliche Wesen und die Unendlichkeit Gottes allen bekannt" (II.47 schol.) - dies ist der Grund und Ausgangspunkt der "wahren Idee", die wir "nämlich" (enim) haben. Dies impliziert zugleich, daß die Wahrheit allen die eine und einzige ist; sie kann weder beliebig noch zufällig sein. Da ferner alle Ideen, die sich auf Gott beziehen, adäquat sind (II.32), muß diese Idee Gottes die letztendliche Garantie der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt bilden.

Althusser wird also Spinoza kaum gerecht, wenn er behauptet, Spinoza lehne "sämtliche" erkenntnistheoretische Fragen des Ursprungs und des Subjekts der Erkenntnis ab. Vielmehr tut er das Gegenteilige - er weist den Ursprung der Erkenntnis in der Idee Gottes auf; er begründet die Möglichkeit des Erkenntnissubjekts, adäquates Wissen zu besitzen.


49 Ebd. S. 76.


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5. Mit Spinoza Hegel bekämpfen?

Nun hat, Althusser zufolge, nicht nur der Marx von 1857 in seiner Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie "faktisch Hegel mit Spinoza bekämpft", sondern auch der Marx des Kapitals und sogar Lenin; die Tatsache, daß Lenin für den Marxismus den Ausdruck "Erkenntnistheorie" beansprucht, stört Althusser nur wenig, weil Lenin sie durch Dialektik definiere. 50 Nach Althussers eigener Ansicht könne im Marxismus von einer Erkenntnistheorie im traditionellen (d.h. vor allem auf Kant zurückgehenden) Sinne nicht gesprochen werden. Statt ihrer möchte Althusser eine Theorie der "Erkenntnis als Produktion" entwickeln. 51 Dies zwingt ihn dann, unter Berufung auf den Marxschen Materialismus zwischen Real- und Erkenntnisobjekten zu unterscheiden. 52 Doch glaubt Althusser zugleich feststellen zu müssen, daß "das 'Denken' an einer anderen 'Materie' arbeitet als am Realobjekt", nämlich an der Anschauung des Realobjekts; das Denken transformiere diese Anschauung dann zu Begriffen und zu Gedankenkonkreta so, daß dieser ganze Prozeß sich nur im Denken, nicht im realen Objekt abspielt. 53 Wie manche Kommentatoren bemerkt haben, impliziert dies, daß das Prinzip der Widerspiegelung aufgegeben und die klassische Korrespondenztheorie der Wahrheit in Frage gestellt wird. 54 Kein Wunder, daß die von Althusser vertretenen Ansichten unter den französischen Marxisten eine lebhafte Diskussion hervorgerufen haben, auf die hier leider nicht näher eingegangen werden kann. 55

Bei aller Kritik und Selbstkritik bleibt ein Zug bestehen: Althusser beruft sich immer wieder auf Spinoza als einen "Vorläufer", dem die Ehre erwiesen wird, Althussers eigene Thesen mit Beispielen und Zitaten zu illustrie-


50 Althusser 1911, S. 71.

51 Ebd. S. 72 ff.

52 Ebd. S. 73 f.

53 Ebd. S. 74.

54 So z.B. Thieme a.a.O., S. 61 ff.- Ted Benton bemerkt, daß diese radikale Distinktion zwischen Erkenntnis- und Realobjekte alle alten klassischen erkenntnis-theoretischen Fragestellungen von Subjekt, Objekt, Ursprung der Erkenntnis usf. mit einem Schlag wieder aktualisiert, obwohl sich Althusser soeben von ihnen losgesagt hatte. Vgl. Benton a.a.O. S. 39.

55 Eine gleichsam aus der Ferne geschriebene Übersicht dieser Diskussion bieten die Arbeiten einiger Sowjetphilosophen, vgl. Gobozov 1981, S. 12 ff.; Greckij 1984, S. 145 ff.; derselbe, Marksistskaja filosofskaja mysl' vo Francii, Moskva 1977, S. 163 ff.


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ren. So wurde der Gedanke des Unterschieds zwischen Erkenntnis- und Realobjekt schon 1965 im Lire le Capital mit einem Hinweis auf Spinoza begründet, den wir schon oben zitierten (siehe Fußnote 6). Die dort angeführte Spinoza-Stelle befindet sich im Tractatus de intellectus emendatione und lautet im Original: "Aliud est circulus, aliud idea circuli. Idea enim circuli non est aliquid, habens peripheriam, et centrum, uti circulus" (G II, S. 14). Hier sei - so Althusser - die Idee des Kreises das "Erkenntnisobjekt", während der Kreis selbst das "Realobjekt" ist, und zwischen ihnen gäbe es nichts Gemeinsames. Spinoza kämpfe mit dieser Definition gegen den "latenten empiristischen Dogmatismus des cartesianischen Idealismus" 56, Marx habe diese Distinktion wieder aufgegriffen und gegen Hegel in Anschlag gebracht.

Aber ein wie zuverlässiger Bürge ist Spinoza? Es stimmt, daß die Dinge (res) und Ideen (ideae) bei Spinoza "nichts Gemeinsames" haben, insofern sie Angehörige verschiedener Attribute sind: "Ein Körper wird nicht durch einen Gedanken und ein Gedanke nicht durch einen Körper begrenzt" (Eth. I. def. 2). Zwischen Ideen und Dingen, Gedanken und Körpern gibt es keine kausalen Beziehungen. Doch anders als Althusser behauptet, richtet sich diese These Spinozas sich nicht gegen Descartes. Vielmehr wird damit eben der Cartesische Standpunkt par excellence festgelegt. Das Novum der Philosophie von Descartes lag ja im Setzen einer Realdistinktion zwischen Körper und Seele, da beide zu verschiedenen Substanzen gehören. Auch Spinoza akzeptiert diesen Cartesischen Ausgangspunkt

Die Cartesianer rangen mit dem Problem, wie eine Wechselwirkung zwischen Körpern und Seelen trotz der Realdistinktion möglich wäre. Spinoza löst dieses Problem anders, und erst damit kommt sein Anticartesianismus mit ins Bild, wobei sich zeigt, daß die Position Spinozas nicht dieselbe ist wie die von Althusser, nämlich die der strikten Unterscheidung von Real- und Erkenntnisobjekt. Wenn wir die Ethik des zweiten Buches aufschlagen, finden wir dort dasselbe Beispiel über den Kreis und die Idee des Kreises, das sich auch im unvollendeten Tractatus befand. Diesmal betont Spinoza nun aber nicht mehr den Unterschied zwischen realen und gedachten Objekten, sondern ihre substantielle Einheit in Gott: "Der Kreis, der in der Natur existiert, und die Idee des existierenden Kreises, die auch in Gott ist, sind ein und dasselbe Ding, nur durch verschiedene Attribute ausgedrückt" (II.7 schol.). Wo Althusser bei Spinoza eine Kluft zwischen Realobjekt und Erkenntnisobjekt zu sehen glaubt, erweist es sich tatsächlich, daß sie beide


56 Althusser, Balibar 1965:I, S. 46.


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"una, eademque res" sind. Indem Spinoza nur eine einzige Substanz setzte, vertrieb er die Realdistinktion, die den Cartesianern viel Kopfzerbrechen bereitet hatte, überhaupt aus der Philosophie.

Es ist Kurt Bayertz und Rolf-Dieter Vogeler zuzustimmen, wenn sie - in Hinblick auf die problematischen Folgen der Anwendung der Machiavellischen Regel ("Denk an die entgegengesetzten Extreme!") - schreiben:

"Soweit Althussers Unterscheidung zwischen Erkenntnisobjekt und Realobjekt daher in ihrer anti-empiristischen Stossrichtung die Nicht-Identität, Nicht-Unmittelbarkeit und Nicht-Linearität der Beziehung zwischen Erkenntnis und Realität betont, kann ihr vom Standpunkt eines dialektisch gefaßten Materialismus schwerlich widersprochen werden [...] Zugleich aber ist unübersehbar, daß die von Althusser eingeführte Unterscheidung [...] den Stab ein wenig zu weit in die entgegengesetzte Richtung biegt: in Richtung auf einen unvermittelten Dualismus. Die berechtigte Weigerung, das Erkenntnisobjekt direkt und linear auf das Realobjekt zurückzuführen, wird bei ihm zur Weigerung, es überhaupt darauf zurückzuführen". 57

Die dabei naheliegende Frage, ob Althusser trotz seines proklamierten "Spinozismus" nicht eher auf die Positionen des Cartesischen Dualismus zurückfällt, erörtern Bayertz und Vogeler nicht. Eine bejahende Antwort scheint sich aber aufzudrängen.

Noch ein Hauptpunkt im Hintergrund der Spinoza-Deutung Althussers ist zu nennen: seine Begriffe "Struktur mit Dominante" und "Überdeterminierung". Auch dafür darf Spinoza Bürge sein, wenn auch nicht mehr ganz explizit.

Der Hegelianismus begreife die Totalität als "expressiv", das heißt, jedes Moment eines Ganzen werde zum Ausdruck dieses Ganzen reduziert, meint Althusser. Im Gegensatz zum Hegelianismus gehe die marxistische Dialektikauffassung davon aus, daß die konkreten Gegenstände der Forschung unabhängig und für sich existieren, mithin keine Ausdrücke innerer Prinzipien irgendeiner Totalität sind.

"Wir haben es", schließt Althusser, "also niemals mit dem Dasein einer reinen Einfachheit zu tun, sei sie nun eine Wesenheit oder eine Kategorie, sondern mit dem Dasein der 'Konkreten', der Dinge und der komplexen Prozesse und Strukturen. Eben dieses fundamentale Prinzip schließt für immer das Hegelsche Widerspruchsmodell aus". 58 Das nicht wieder gut zu machende Unglück mit der Hegelschen Dialektik ist, daß sie einen


57 Bayertz, Vogeler 1977, S. 117.

58 Althusser 1980, S. 202.


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"processus simple à deux contraires" voraussetzt: eine ursprüngliche, einfache Einheit, die sich in zwei Gegensätzlichkeiten spaltet An dieser Dualität spinnen die Hegelianer dann weiter, "heben" den Dualismus unermüdlich in einer höheren Einheit "auf und konstruieren dadurch Begriffe wie Wesenheit, Identität, Einheit, Negation usf. 59

Nicht so im Marxismus. Der Marxismus - und hier weist Althusser, symptomatisch genug, auf die Äußerungen Mao Tse-tungs hin 60 - operiere vielmehr mit einer Verflechtung der Widersprüche, die eine Struktur bilden. Die Widersprüche entwickeln sich auf ungleiche Weise. Ein Widerspruch dominiert über den andern. Eben weil sich bei Hegel alle Differenzen lediglich in einer einheitlichen geistigen Substanz abspielen, sind die Unterschiede nur sekundär; die Differenzen sind letzten Endes "indifferent". Demgegenüber fordert der Materialismus eine Dominanz, die "die absolute Voraussetzung dafür ist, daß eine reelle Komplexität eine Einheit sein kann". 61 Ein solcher durch eine "strukturelle Komplexität" determinierter Widerspruch eben ist "überdeterminiert". 62

Daraus folgt: "Wenn wir es niemals mit etwas anderem zu tun haben als mit Prozessen komplexer Struktur mit Dominanten, kann der Begriff der Negativität (und die Begriffe, die er reflektiert: Negation der Negation, Entfremdung usf.) nicht zum wissenschaftlichen Verständnis ihrer Entwicklungen dienen". 63

In diesen komplexen Strukturen ohne Negationen löst sich auch die Subjektivität auf. Hier hält es Althusser, wie belegt worden ist, mit Lacan 64

59 Ebd. S. 202. Althusser fährt fort: Der Marxismus weise nicht nur die hegelianische Ansicht zurück, daß der Prozeß einen Nullpunkt hat; "aussi rejette-t-il la prétention philosophique hégélienne qui se donne cette unité simple originaire (reproduite à chaque moment du processus) qui va produire ensuite, par son autodéveloppement, toute la complexité du processus, mais sans jamais s'y perdre elle-même, sans jamais y perdre ni sa simplicité ni son unité" (ebd. S. 203).

60 Ebd. S. 204. Erwähnt sei, daß die philosophischen Schriften Maos, auf die sich Althusser so oft anerkennend bezieht, in der Tat nichts anderes zu sein scheinen als Kompilationen aus sowjetischen Lehrbüchern der 30er Jahre, die unter Leitung von Mark Mitin herausgegeben wurden. Genauer dazu (mit vergleichenden Inhaltsanalysen) Altaisky, Georgijev 1971, S. 58 ff. Wie sich später herausstellte, ist "W. Georgijew" ein Pseudonym des bekannten Sowjetphilosophen Ewald Iljenkow.


61 Althusser 1980, S. 210.

62 Ebd. S. 215.

63 Ebd. S. 220 f.

64 Vgl. z.B. Grimm, a.a.O., S. 166 ff.


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- doch folgt die Ablehnung des Subjektbegriffs im Hegelschen Sinne schon daraus, daß man die Negation der Negation verwirft Für Hegel war nämlich die selbstbezügliche dialektische Bewegung der Negation der Negation nach dem Modell der Subjektivität konzipiert, so daß aus der "Theorie der absoluten Subjektivität" notwendigerweise eine spekulative Logik folgte. 65

Althusser hat demnach Hegel gut in sein Visier genommen, indem er die Negation der Negation eliminiert, so daß mit ihr beinahe alles über Bord geht, was die Hegelsche Dialektik charakterisiert. Nicht zu Unrecht bemerkt er, daß in der Negation der Negation und in der Aufhebung das Ziel steckt, d.h. eine teleologische Betrachtungsweise "als wichtigste Form und vornehmlicher Ort der 'Mystifizierung' der Hegelschen Dialektik". Und eben hier sei Spinoza mit seiner Kritik an jedweder Teleologie behilflich. 66

Wir kommen auf die Althussersche Bekämpfung der Dialektik mit Hilfe Spinozas noch im Essay "Spinoza, ein Dialektiker wider Hegel" zurück.

6. Pierre Macherey über die Methode Spinozas

Die seit den 60er Jahren vorgetragenen Grundgedanken Althussers sind ohne besondere Änderungen in Pierre Machereys Buch Hegel ou Spinoza (1979) aufgenommen worden. Macherey analysiert das Verhältnis Spinoza-Hegel eingehender als Althusser, aber wie bei diesem, ist auch der Machereysche Spinoza ein Anti-Widerspiegelungstheoretiker und ein Bekämpfer der Korrespondenztheorie der Wahrheit

Macherey leitet seine Exposition mit einer Betrachtung der Methodenfragen ein. Er ist der Ansicht, daß die "genetische Erkenntniskonzeption" Spinozas "absolut mit der cartesianischen Methodenproblematik bricht" 67 - sogar so, daß sich der spinozistische Tractatus de intellectus emendatione wie eine Art Discours contre la Méthode darstellt. 68

Zum Unterschied zwischen Spinozas und Descartes' Methodenverständnis stellt Macherey einige treffende Beobachtungen an. Spinoza definiert im Tractatus die Methode als "reflexives Erkennen oder Idee der Idee" (G II, Ss. 15-16) und hebt hervor, daß es keine Methode geben kann, "bevor es die Idee gibt" (G II, S. 16). Damit sei - so Macherey - die traditionelle Ord-


65 Siehe Düsing 1984.

66 Althusser 1975, S. 75.

67 Macherey 1979, S. 71.

68 Ebd. S. 57.


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nung der Methode auf den Kopf gestellt: "Die Idee der Idee [...] ist nicht die Voraussetzung des Erscheinens des Wahren, sondern im Gegenteil seine Wirkung, sein Resultat". 69 Wir haben nämlich "schon" (enim) die wahre Idee (dieses Diktum Spinozas griff, wie wir sahen, auch Althusser auf). Ganz anders Descartes: vor dem Erkennen muß man die Mittel dazu, d.h. die Methodenregel parat haben.

Macherey lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Beispiel in der achten Regel der Regulae ad directionem ingenii von Descartes, wo dieser seine Methodenauffassung mit der "mechanischen Kunst" des Schmieds vergleicht. Die Arbeit des Schmieds erfordert es, daß Werkzeuge, wie Hammer, Amboßund Balge schon vorhanden sind; fehlen diese, muß der Schmied sich zuerst, z.B. mit Hilfe eines Steines, einen Hammer schmieden. In ähnlicher Weise muß man, bevor man sich darauf einläßt, Dinge zu erkennen, die Mittel zur Erkenntnistätigkeit anfertigen. Das Bedenkliche in der Forderung Descartes' ist, daß ein Ziel für die Erkenntnis vorausgesetzt wird. Die Descartessche Methodenauffassung ist somit nach Macherey in einer "finalistischen Illusion" 70 befangen.

Nun wiederholt Spinoza im Tractatus dieses Beispiel Descartes' "wörtlich", aber "um zu einer genau umgekehrten Schlußfolgerung zu gelangen": die "intellektuellen Werkzeuge" werden nämlich keine im voraus bereitgestellten Voraussetzungen für die Erkenntnis bilden, weil "sie selbst in derselben Bewegung, die alle anderen Produkte erzeugt, produziert werden müssen". 71

Wenn Macherey daraus jedoch schlußfolgert, daß Spinoza methodisch kernen "guten Anfang" anstrebt, der das Denken mit einem Schlag auf die richtigen Bahnen lenken würde, 72 so muß dem entgegengehalten werden, daß Spinoza sehr wohl und ganz ähnlich wie Descartes die "Reinigung" des Verstandes voraussetzte. Die Methode, schrieb er an Johann Bouwmeester am 10. Juni 1666, bestehe lediglich dann, daß wir "unsere klaren und deutlichen Perzeptionen leiten und verknüpfen können" so daß der Verstand nicht Zufälligkeiten unterworfen ist, sondern diese Perzeptionen bloß von unserer Natur und Macht abhangen. Dies setzt notwendig voraus ("ut acquiratur, necesse est", sagt Spinoza ausdrücklich), daß man vor allem "zwischen Verstand und Imagination unterscheidet, das ist, zwischen den


69 Ebd. S. 56.

70 Ebd. S. 63.

71 Ebd. S. 61.

72 Ebd. S. 62.


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wahren Ideen und den übrigen, nämlich eingebildeten, falschen, zweifelhaften Ideen..." (G IV, S. 188f). Hinsichtlich der rationalistischen Forderung der "Reinigung des Verstandes" gibt es keinen Unterschied zwischen Spinoza und Descartes - es sei denn, daß Descartes - wie wir noch zeigen werden - an dieser Forderung nicht konsequent genug festhielt, sondern der Imagination zuviel Aktionsraum übrig liess.

Der methodische Unterschied dieser zwei Philosophen liegt woanders. Spinoza geht von Gott aus, wahrend Descartes' Ausgangspunkt das endliche Subjekt mit dessen Cogito-Argument ist. Für Spinoza ist die Wahrheit damit garantiert, daß die Idee Gottes in jeder menschlichen Seele präsent ist Auch Descartes gelangt zu demselben Schluß, aber auf Umwegen: Gott kann nicht betrügen, 73 darum sind meine Ideen in Hinblick auf die Außenwelt in letzter Instanz stichhaltig.

Zuerst aber macht Descartes den Umweg durch das Nadelöhr der endlichen Subjektivität und besonders durch den freien Willen (der nach ihm die alleinige Quelle des Irrtums ist). Eben der unstete, zu Irrfahrten neigende freie Wille macht eine vorausgeschickte Methode, "Regeln zur Leitung des Verstandes" notwendig. 74


73 Auch bei Spinoza finden wir das Argument, daß ein Deus deceptor nicht möglich ist, da die einfachsten Ideen niemals erfunden sein können "Nullo ergo modo timendum erit, nos aliquid fingere, si modo clare, & distincte rem percipiamus", und "rem simplicissimam non posse fingi, sed intelligi" (G II, S. 24 f.) Der Unterschied zu Descartes ist aber, daß dieser auch den "gutwilligen", nicht-betrügerischen Gott als menschenähnliches Subjekt dachte, was bei Spinoza nicht der Fall ist.

74 Spinoza wollte somit sagen, daß die Notwendigkeit einer besonderen Methode wegfällt, wenn man die Illusion der Willensfreiheit aufgibt, und dann würde eine "cognitio reflexiva" als Ausgangspunkt der Idee Gottes ausreichen Es scheint, daß Spinoza den Tractatus unvollendet gelassen hat, weil er später das dort vorgelegte Methodenprogramm als teilweise utopisch bewertete Die Stellung des Tractatus im Gesamtwerk Spinozas ist ein kompliziertes Problem, auf das wir hier nicht naher eingehen können (vgl. z.B. Mignini 1983, S. 5 ff. Mignini verficht die These, daß der Tractatus beträchtlich früher zu datieren wäre, als man gewöhnlich annimmt, schon vor die Korte Verhandeling). - Marco Messen hat jüngst den Standpunkt vertreten, daß Spinoza im Tractatus seine "prima filosofia della mente" entwickelte, die das intentionale Moment des Denkens starker hervorhob, als dies später m der Ethik der Fall war In der ersten Phase von Spinozas Denken existierten einerseits die Wissenschaft als Ausdruck der Dinge selbst, andererseits das Bewußtsein des einzelnen Individuums unvermittelt nebenan, später korrigierte Spinoza dies dahingehend, daß nun jedes Einzelbewußtsein als ein Teil des unendlichen göttlichen Intel-


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Spinoza bricht also mit der Cartesischen Methodenproblematik nicht "absolut", wie Macherey schreibt Vielmehr tut Descartes sich selbst Gewalt an mit seinem Postulat der Willensfreiheit, das mit dem Programm des Rationalismus in Widerspruch steht.

7. Vom Res-Idea-Parallelismus Spinozas

Macherey glaubt bei Spinoza auch einen tieferen "Bruch" mit der Cartesischen Methode zu finden. Er folgt darin deutlich der althusserianisch inspirierten Lektüre.

In seinen Meditationen geht Descartes von den Wirkungen zu den Ursachen über. Z.B. schließt er von der Existenz der menschlichen Seele auf die Existenz Gottes, weil der Mensch, der in seiner endlichen Seele eine Idee des unendlichen Gottes hat, diese Idee unmöglich aus seiner Seele allein geschöpft haben kann. "Von diesem Standpunkt aus gesehen", schreibt Macherey, "ist die Erkenntnis zugleich als Repräsentation bestimmt, da die Erkenntnis das Reelle im Denken reflektiert". 75

Bei Spinoza sei es anders. Bei ihm "expliziere" die adäquate Erkenntnis ihren Gegenstand "in dem Masse, wie sie ihre Identität mit ihm affirmiert". Es handle sich hier also nicht um eine Repräsentation, sondern darum, daß die Ordnung, die in der Wirklichkeit des Denkens herrscht, der ebenso notwendigen Ordnung der Wirklichkeit der außergedanklichen Dinge entspricht. 76 Die Erkenntnis schreitet bei Spinoza - laut Macherey - nicht von den Dingen zu den Ideen und auch nicht von den Ideen zu den Dingen, sondern nur von den Ideen zu den Ideen, ohne jemals mit den außergedanklichen Dingen zu "korrespondieren". 77

Diese Lektüre begründet Macherey mit dem Hinweis auf eine Stelle in Spinozas Tractatus:


lekts betrachtet wurde. Interessant ist ferner Messens These, daß erst dieses neue Konzept des Denkens Spinoza dazu bewog, eine Theorie vom privativen Charakter der Falschheit zu entwickeln (Messen 1990, S. 297 ff.; S. 305). - Unabhängig davon, welchen Standpunkt man zu diesen Fragen einnimmt, ist es evident, daß bei der Rekonstruktion der Ansichten Spinozas man nicht kritiklos den Tractatus als Belegquelle benutzen sollte, denn darin vertretene Positionen sind nicht endgültig.

75 Macherey 1979, S. 72.

76 Ebd. S. 72.

77 Ebd. S. 74.


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"Daraus erhellt, daß wir vor allem alle unsere Ideen von den physischen Gegenständen oder von den wirklichen Dingen ableiten (ut semper a rebus Physicis, sive ab entibus realibus omnes nostras ideas deducamus), und dabei so viel wie möglich der Reihe der Ursachen folgend von einem wirklichen Dinge zum anderen fortschreiten, ohne auf die abstrakten und universellen Vorstellungen überzugehen und ohne weder etwas Wirkliches aus diesen zu folgern, noch sie aus einem Wirklichen zu folgern; denn beides unterbricht den wahren Fortgang des Intellekts" (G II, S. 36).

Der Gedanke, den Spinoza hier vorträgt (und den er auch in Eth. II.40 schol. 1 wiederholt) besagt, daß "abstracta et universalia" nicht mit "entia realia" zu verwechseln sind. Er drückt die methodische Schlußfolgerung aus dem Prinzip so aus, daß "res" (z.B. ein Kreis in der Natur) und "idea" (z.B. die Idee des Kreises) insofern inkommensurabel sind, als sie zu verschiedenen Attributen gehören. Sehr deutlich ist dieses Prinzip im Scholion zu Proposition II.7 formuliert:

"Mögen wir daher die Natur unter dem Attribut der Ausdehnung oder unter dem Attribut des Denkens oder unter irgend einem anderen auffassen, so werden wir dieselbe Ordnung und dieselbe Verknüpfung der Ursachen, d.h. die wechselseitige Folge der Dinge antreffen (unum, eodemque ordinem, sive unam eademque causarum connexionem, hoc est easdem res invices reperiemus). Aus keinem anderen Grunde habe ich gesagt, daß Gott z.B. Ursache der Idee des Kreises ist, als insofern er ein denkendes Wesen ist, und Ursache des Kreises selbst ist er nur, insofern er ein ausgedehntes Wesen ist, weil das formale Sein der Idee des Kreises nur durch einen anderen Zustand des Denkens als seine nächste Ursache und dieser wiederum durch einen anderen und so fort ins Unendliche vorgestellt werden kann". - Danach bemerkt Spinoza, daß wir, so lange wir die Dinge "als Modi des Denkens betrachten" (d.h. als Gedankendinge), die Ordnung der ganzen Natur nur durch das Attribut des Denkens allein erklären müssen.

Es scheint also, als ob Macherey völlig recht hätte, wenn er die Theorie des res-idea-Parallelismus Spinozas als einen Vorläufer der strikten Unterscheidung Althussers zwischen Erkenntnisobjekt und Realobjekt deutet: "Ce 'progrès', le procès réel du savoir, ne procède ni des choses aux idées, ni des idées aux choses, mais il va d'idée en idée". 78

Aber bei näherer Betrachtung entsteht sofort der seltsame Eindruck, daß entweder Spinoza inkonsequent sein muß, oder Macherey ihn auf eine nicht sachgerechte Art "liest". Denn falls es stimmt, daß bei Spinoza die "res"


78 Ebd. S. 74.


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und "ideae" sich niemals "begegnen", sondern aparte Kausalketten innerhalb ihres je eigenen Attributs bilden, wie ist es dann möglich, daß Spinoza in der eben von Macherey zitierten Tractatus-Stelle dennoch schreibt, daß wir "vor allem unsere Ideen von den physischen Gegenständen oder von den wirklichen Dingen ableiten" müssen? Steht dies nicht in Widerspruch zum vermeintlichen Parallelismus Spinozas?

Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs findet sich in den paar Worten im Scholion zu II.17, die wir schon zitierten. Spinoza sagte nämlich, die Kausalkette der Ideen muß innerhalb des Attributs des Denkens bleiben, weil nur dadurch "das formale Sein der Idee" die "nächste Ursache" einer anderen Idee sein kann Die realen, physischen Gegenstande dagegen existieren in den Ideen objective (Spinoza, wie auch Descartes, folgt noch dem scholastischen Gebrauch dieses Terminus), d.h. als Repräsentation. Wenn z.B. ein "in der Natur" existierender Kreis ein esse formale hat, so ist die Idee dieses Kreises derselbe Kreis, aber diesmal objective. Zwischen "formalem" und "objektivem" Sein aber gibt es keine kausalen Beziehungen, da das Repräsentationsverhältnis bei Spinoza nicht kausal ist. Kausale Beziehungen kann es nur innerhalb von Attributen, nicht aber zwischen verschiedenen Attributen geben. 79

Der Erkenntnisprozeß ist bei Spinoza somit doppelt bedingt: einerseits werden die ausgedehnten Dinge in den Ideen nicht-kausal ("objective") repräsentiert; eine Idee bedingt ihrerseits eine andere Idee, wodurch dann die berühmte Spinozistische "ordo et connexio idearum" entsteht.

Weiter: Obgleich Ideen nur auf andere Ideen wirken, folgt daraus nicht, daß sich auch der Erkenntnisprozeß strikt innerhalb des Denkattributs halten wurde. Denn Erkenntnis besteht nicht aus reinem Denken allem, oder wie Kant es ausdruckte, sich einen Gegenstand denken und einen Gegenstand erkennen, ist nicht einerlei (KdrV B 146). Das reine Denken ist bloße Form, aus der erst Erkenntnis wird, wenn die Sinnlichkeit ihr "Stoff gegeben hat.


79 Man konnte einwenden, daß in der Lehre von den Ideen der Ideen' - von der später unten die Rede sein wird Spinoza gegen dieses Prinzip verstösst, zumal eine Idee X sowohl ein Gegenstand einer anderen Idee Y ist (d.h. die Idee X wird durch die Idee Y repräsentiert) als auch die Idee Y bedingt Dieser Einwand übersieht aber, daß bei Spinoza wie tatsächlich schon bei Descartes die Ideen eine Doppelfunktion haben als Ideen sind sie zunächst objektive Repräsentationen der sich außerhalb ihrer befindlichen Dinge, aber als Gegenstande anderer Ideen existieren sie formaliter.


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An sich ist an dieser Sichtweise nichts spezifisch Kantisches, vielmehr hat Kant damit nur ein Resultat vorangegangener Entwicklung neuzeitlicher Philosophie zusammengefaßt. Wir finden denselben Gedankengang auch bei Spinoza und Descartes. Laut Spinoza gibt es in den Ideen "etwas Reales, wodurch die wahren von den falschen unterschieden werden" (in ideis dari aliquid reale, per quod verae a falsis distinguuntur; G II, S. 26). Nicht anders Descartes: "Wenn wir weiter die in uns befindlichen Ideen betrachten, sehen wir, daß insofern sie irgendwelche Modi des Denkens sind, sie sich nicht viel voneinander unterscheiden; aber insofern eine Idee ein Ding repräsentiert, eine andere Idee ein anderes Ding, sind sie sehr verschieden, zudem, je mehr objektive Vollständigkeit sie in sich enthalten, desto vollständiger müssen ihre Ursachen sein" (Princ. Phil. I. § 17).

Mit anderen Worten: der Res-Idea-Parallelismus ist nichts anderes als ein Nebeneinanderbestehen von formalem und objektivem Sein. Genauer: Die Ideen geben im Denken die "objective" Seite der Dinge wider. Um das zu können, müssen sie Realität oder Vollständigkeit (was auf dasselbe hinauskommt, vgl. Eth. II. def. 6) besitzen. Diese "Realität" des "objektiven" (repräsentierten) Seins ist eben das, was Kant mit dem "Stoff der Erkenntnis meinte. Ohne sie käme die Erkenntnis überhaupt nicht zustande. Wir sehen also, daß im Spinozistischen res-idea-Parallelismus die res für die Realität der Ideen sorgen, obgleich es keine kausalen Beziehungen zwischen ihnen gibt.

In einer Hinsicht hat Macherey zwar recht: Die Erkenntnistheorie Spinozas markiert dann insofern einen Bruch mit dem Cartesianismus, als bei Spinoza nicht mehr nach den kausalen Beziehungen zwischen Dingen und Ideen (bzw. Körper und Seele) gefragt wird. Kausal sind nur die Verhältnisse zwischen Dingen einerseits, und zwischen Ideen andererseits.

Was bei Macherey problematisch wird, ist, daß er die doppelte Bedingtheit Spinozistischer Erkenntnistheorie außer acht läßt. So entgeht ihm die substantielle Einheit, die dem "formalen" und "objektiven" Sein zugrundeliegt. Auf diese Weise spaltet sich auch die Spinozistische Welt gut althusserianisch ohne Vermittlung in die Sphären der "Erkenntnis-" und "Realobjekte". Besonders deutlich wird dies an der Machereyschen Behandlung des Spinozistischen Begriffs der Adäquation.


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8. Adäquate Ideen und das Subjekt-Objekt-Verhältnis

Spinoza unterschied die Begriffe "wahre Idee" und "adäquate Idee". Eine wahre Idee ist nach ihm eine solche, die ihrem Gegenstand entspricht (Eth. I ax. 6: "Idea vera debet cum suo ideato convenire"). Die Bestimmung folgt gänzlich der klassischen, aristotelischen Korrespondenz-Theorie der Wahrheit.

Aber als Spinoza die adäquate Idee definierte, führte er den Begriff der "inneren Kennzeichen der wahren Idee" ein:

"Unter einer adäquaten Idee verstehe ich eine Idee, die, insofern sie in sich und ohne Beziehung auf den Gegenstand betrachtet wird, alle Eigenschaften oder inneren Kennzeichen einer wahren Idee hat" (Per ideam adaequatam intelligo ideam, quae, quatenus in se sine relatione ad objectum considerate, omnes verae ideae proprietates, sive denominationes intrinsecas habet; Eth. II def. 4). Der Definition fügt Spinoza eine Erläuterung hinzu: "Ich sage 'innere' Kennzeichen, um dasjenige auszuschließen, was äußerlich ist, nämlich die Übereinstimmung der Idee mit ihrem Gegenstand".

Mit dem "inneren Kennzeichen" der wahren Idee meint Spinoza vor allem die Gewissheit, die diese mit sich bringt und wodurch die Wahrheit "index sui et falsi" ist Man braucht nicht äußerliche Wahrheitskriterien zu suchen. "So wie das Licht sich selbst und die Finsternis offenbart, so ist die Wahrheit das Richtmaß ihrer und des Falschen" (II.43 schol.). Wer eine wahre Idee hat, weiß zugleich, daß er sie hat; Wissen der Wahrheit ist somit "Wissen des Wissens".

Soweit Spinoza. Nun kommt Macherey ins Spiel und gibt eine auf seiner Lektüre Althussers gründende Deutung dieser Ideen. Nachdem Macherey erst anmerkt, daß Spinoza die klassisch-aristotelische Korrespondenztheorie der Wahrheit im ersten Buch der Ethik nur als Axiom, nicht als Definition aufgestellt hat, schreibt er. "Der Begriff der convenientia, der die Idee auf den Gegenstand bezieht, der außerhalb ihr ist, drückt deutlich ein äußeres Kennzeichen aus. Dagegen bestimmt die kausale Definition der wahren Idee diese durch ihre 'adaequatio': gerade dieser Begriff ist bei Spinoza wesentlich und markiert seinen Bruch mit dem traditionellen Begriff der Erkenntnistheorie". 80

Nach Macherey sind die Begriffe der "convenientia" (Übereinstimmung der Idee mit ihrem Gegenstand) und der "adaequatio" bei Spinoza nicht nur


80 Macherey 1979, a.a.O., S. 76.


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verschieden, sondern sogar gegensätzlich. "En effet, par adequatio il faut penser tout le contraire de ce qui s'expose comme convenientia". 81 Mit Einführung der Kategorie der Adäquation ziele Spinoza auf einen Bruch mit der bis zum Cartesianismus reichenden Tradition, die eigensinnig an dem Begriff der Repräsentation festhält, meint Macherey: "La fonction essentielle de la catégorie d'adéquatio, c'est de rompre avec de la connaissance comme représentation". Die Erkenntnis im Sinne der Repräsentation sei - schon der Etymologie des Wortes nach: re-présenter - nichts anderes als "Wiedergeben" des Gegenstandes im Denken, und die Idee sei danach nur ein Duplikat des Dinges, das außerhalb ihrer existiert. 82 Dagegen seien bei Spinoza die adäquaten Ideen aus einem ganz andersartigen Holz geschnitzt. Sie sollen nicht mehr vom Subjekt-Objekt-Verhältnis her verstanden werden.

Bevor wir näher auf Machereys These eingehen, zitieren wir aus einem Brief Spinozas an Tschirnhaus 1675 (Epistola 60), wo er die schon in der Ethik aufgestellten Definitionen der wahren und der adäquaten Ideen nochmals wiedergibt:

"Unter einer wahren und einer adäquaten Idee erkenne ich nur den Unterschied an, daß die Benennung 'wahr' sich nur auf die Übereinstimmung der Idee mit ihrem Gegenstand bezieht, die Benennung 'adäquat' ihrerseits drückt die Natur der Idee selbst aus. So daß es in der Tat keinen anderen Unterschied zwischen wahrer und adäquater Idee gibt, als diese äußere Beziehung" (...ita ut revera nulla detur differentia inter ideam veram, et adaequatam praeter relationem illam extrinsecam; G IV, S. 270).

Aus diesen Worten Spinozas ist eindeutig herauszulesen, daß die wahren und die adäquaten Ideen bei ihm kein Gegensatzpaar bilden. Statt die Ad-


81 Ebd. S. 76.

82 Ebd. S. 76. - Hier sei hinzugefügt, das sich Gilles Deleuze schon in seinem 1968 erschienenen Buch (Deleuze 1968a) ähnlich wie Macherey gegen die Repräsentationstheorie wendet. Nach Deleuze ist der repräsentative Inhalt der Ideen bei Spinoza nur "äußerer Schein", der dem "tieferen expressiven Inhalt" diene (le contenu représentatif n'est qu'une apparence, en fonction d'un contenu expressif plus profond; S. 138). Zugleich kritisiert Deleuze Descartes dafür, daß dieser sich bei seinen "klaren und deutlichen Ideen" auf dem Niveau der Repräsentativität halte und "il ne s'est pas élevé jusqu'à un contenu expressif infinitement plus profond" (S. 136). Widerspiegelungstheoretisch konnte aber der Mangel Descartes' ebensogut darin erblickt werden, daß er - und die Cartesianer überhaupt - wegen eines von der Realdistinktion bedingten Leib-Seele-Dualismus an dem Prinzip der Repräsentation nicht konsequent genug festhalten konnte.


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aquation - Macherey folgend - als eine Art Aufhebung der Korrespondenztheorie der Wahrheit anzusehen, wäre sie als deren Ergänzung zu betrachten. An keiner Stelle 83 seines Werkes polemisiert Spinoza gegen die Bestimmung der Wahrheit als Korrespondenz oder "convenientia" (anders als später Hegel 84 ), und es gibt keinen Anlaß zur Annahme, daß er mit der Adäquation "tout le contraire" verstehen würde als mit Korrespondenz.

Warum aber will Macherey der Adäquation um jeden Preis eine derartig besondere Stellung einräumen? Sein Vorhaben erklärt sich aus den Forderungen der Dogmen althusserianischer Lektüre. Althusserianisch verstandene Adäquation würde nämlich die Aufgabe der Subjekt-Objekt-Struktur der Erkenntnisrelation ermöglichen. Darum schreibt Macherey der Spinozistischen Erkenntnistheorie eine "Subjektlosigkeit" zu, die kaum den authentischen Ansichten Spinozas Gerechtigkeit widerfahren läßt

In Anlehnung auf das bekannte Dictum Spinozas im Tractatus, daß die menschliche Seelentätigkeit gewissen Gesetzen folgt, "quasi aliquod automa spirituale" (G II, S. 32), kommentiert Macherey, daß die Seele lediglich von objektiven Determinationen ausgehend funktioniert Es sind eigentlich, so Macherey, die Ideen, die an sich aktiv sind, ohne Beteiligung irgendeiner Subjektivität - ein Prozeß ohne Subjekt also: "L'âme est un automate spirituel parce qu'elle n'est pas soumise au libre-arbitre d'un sujet dont l'autonomie serait de toute manière fictive [...] Il n'y a pas de sujet de la connaissance, pas même de Vérité au-dessus des vérités qui en disposerait la forme à l'avance, parce que l'idée est vraie en elle-même, singulièrement, activement, affirmativement, en l'absence de toute détermination extrinsèque". 85

Dies ist ein etwas überraschendes Resultat, denn es wird deutlich, daß Spinozas angeblich selbsttätige Ideen dem Hegelschen Geistesbegriff doch


83 Vgl. z.B. Giancotti Boscherini 1970, s.vv. "adaequatus", "veritas", "verum".

84 "Der bisherige Begriff der Logik" beruht, nach Hegel, "auf der im gewöhnlichen Bewußtsein ein für allemal vorausgesetzten Trennung des Inhalts der Erkenntnis und der Form derselben, oder der Wahrheit und Gewissheit". Die gängige Logik erblicke im Denken "etwas Mangelhaftes [...], das sich erst an einem Stoffe zu vervollständigen" hätte. Vor allem ist Hegel damit unzufrieden, daß die "Wahrheit" als Übereinstimmung des Denkens mit dem Gegensunde" betrachtet worden ist, wobei "das Denken nach dem Gegenstande sich fügen und bequemen" muß (Hegel 1969:5, S. 36 f.).

85 Macherey 1979, S. 79 f. Vgl. ebd. S. 85: "Le caractère actif de la connaissance ne renvoie pas à l'initiative d'un sujet libre, mais c'est l'idée elle-même qui est active".


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nahe stehen, was der ursprünglichen programmatischen Absicht der Althusser-Schule, mit Spinoza Hegel zu bekämpfen, widerspricht Hier, wo Hegel am meisten idealistisch ist, sieht Macherey in der Tat die grösste Annäherung an den Materialisten Spinoza. Er zitiert aus dem Zusatz 2 zu § 24 der Enzyklopädie die Worte Hegels: "Gewöhnlich nennen wir Wahrheit Übereinstimmung eines Gegenstandes mit unserer Vorstellung [...] Im philosophischen Sinn dagegen heißt Wahrheit, überhaupt abstrakt ausgedrückt, Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst". 86 Wir sind hier, fährt Macherey fort, "dem Begriff der Adäquation ganz nahe", wo das Erkennen als "ein immanentes Verhältnis" hervortritt. 87

Mehr noch: Hegels "adäquater" Wahrheitsbegriff impliziert "ein ganz neues Verhältnis zwischen Wahrheit und Irrtum. Vom spekulativen Standpunkt aus ist das Falsche nicht mehr ein Negatives, das etwas bloß Negatives und gänzlich äußerlich hinsichtlich des Wahren wäre [...] Auch das Wahre ist selbst ebensogut ein Negatives gegenüber dem Falschen [...] Darum ist es nicht mehr möglich, dogmatisch zwischen Wahrem und Falschem einen rigiden Unterschied zu machen". 88

Wäre es ernst gemeint mit der Behauptung, daß Spinoza in seiner Wahrheitstheorie Hegel "antizipiert", und beide zu "vergleichbaren Schlüssen" gelangen, 89 so hätte Macherey mindestens eine Stelle bei Spinoza aufzeigen müssen, wo dieser ähnlich Hegel die Ansicht vertritt, die Dinge müßten "ihrem Begriff entsprechen" oder der Inhalt der Erkenntnis müßte mit sich selbst übereinstimmen. Hegels gnoseologische Position ist es nämlich, daß er den von seinem Vorgänger Kant festgestellten Unterschied zwischen Denken und Erkennen ablehnt Das Denken braucht nicht mehr seine Inhalte von außen herholen, um die synthetische Leistung des Erkennens zu bewerkstelligen: es wird selbstbezüglich, Inhalt seiner selbst.

Wenn Spinoza auch ausdrücklich sagte, daß die Adäquation "die Natur der Idee selbst" zum Vorschein bringt und daß die Wahrheit "Maßstab ihrer selbst und des Falschen" ist, handelt es sich hier dennoch nicht um einen dem Hegelschen ähnlichen Wahrheitsbegri ff. Der "Inhalt" der Erkenntnis, der mit sich selbst übereinstimmen mußte, bestand bei Hegel von Anfang an aus dem substantiellen Geist Bei Spinoza dagegen hat das Geistige nur den Status eines Attributes. So ist es auch alles andere denn unerwartet wenn


86 Hegel 1969:8, S. 86.

87 Macherey 1979, S. 88.

88 Ebd. S. 89.

89 Ebd. S. 88, 90.


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man im dritten Buch der Ethik den Satz findet, daß "die Vortrefflichkeit (praestantia) der Ideen und das aktuelle Denkvermögen nach der Vortrefflichkeit des Objekts bestimmt wird" (III. Aff. gen. def.). Das Objekt, der Gegenstand außerhalb des Erkenntnissubjekts, bleibt also letzten Endes richtungweisend für die Gestaltung des Erkenntnisprozesses und es garantiert, daß es in den Ideen "aliquid reale", d.h. Erkenntnisinhalt gibt.

Spinozas Auffassung vom Erkenntnisprozeß steht somit Kant näher als Hegel. 90 Bei Spinoza stammt das Reale, das in den Ideen enthalten ist, aus anderen Sphären als aus dem Denkattribut. Darum kann er im Scholion zu Eth. II. prop. 13 erst schreiben, daß es "von jedem Dinge notwendig in Gott eine Idee gibt, deren Ursache Gott ist", und dann noch präzisieren: "Die Ideen sind ebenso unterschiedlich wie die Objekte, und die einen Ideen vorzüglicher als die anderen und enthalten mehr an Realität (unamque alia praestantiorem esse, plusque realitatis continere), sofern das Objekt der einen Idee vorzüglicher ist als das Objekt der anderen".

Macherey bemerkt zwar, daß Hegel und Spinoza das Denken sehr verschieden auffassen - der eine als "sujet de soi" und Totalität, der andere als Attribut der Substanz. Und er sagt ganz zutreffend, daß "Spinozas Philosophie nicht dieses exklusive Privileg des Denkens zuläßt". 91 Doch formuliert er schon auf der folgenden Seite sehr fragwürdig, wenn er schreibt, bei Spinoza vollziehe sich die Verkettung der Ideen in "einer absoluten Gleichheit (égalité absolue) mit allen anderen Formen, durch die die Substanz sich ausdrückt". Hegels Fehler sei es nämlich gewesen, alles zwischen Himmel und Erde dem Geist-Subjekt-Schema unterzuordnen; Spinoza "eliminiert diese Teleologie" eben dadurch, daß er alle hierarchischen Subordinationen zurückweist. 92

Dem ist nicht ganz so. Schon der alte Sigwart bemerkte in seinem auch heute noch lesenswerten Spinoza-Buch den "einseitig-realistischen" Cha-


90 Natürlich geht die Verwandtschaft von Kant und Spinoza hier nicht tiefer, als daß beide die "traditionell-moderne", noch vor der Entstehung der deutschen Transzendentalphilosophie vorherrschende Ansicht von der Subjekt-Objekt-Struktur des Erkenntnisprozesses teilen. Obgleich Kant schon meinte, daß die Dinge sich nach unserem Erkennen richten müssen (und insofern die transzendentalphilosophische Gleichsetzung von Sein und Denken vorbereitete), hielt er noch an der Forderung fest, daß das erkennende Subjekt den Inhalt seiner Gedanken von den äußeren Objekten erhalten muß.

91 Ebd. S. 92.

92 Ebd. S. 93.


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rakter des Spinozismus 93 und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß selbst wenn die Attribute bei Spinoza in bezug "auf einander gleichen Werth und gleiche Dignität" besitzen, 94 dieses Prinzip des gleichen Verhältnisses "nun aber in der Lehre von den modis nicht festgehalten, sondern verletzt" wird, "und zwar in der Art, daß dem modus der Ausdehnung eine gewisse Priorität und Superiorität zugetheilt wird. Denn die actuelle Existenz der Seele wird von der actuellen Existenz eines einzelnen Dinges (Eth. Prs. II. Prop. 11) abhängig gemacht [...], wie überhaupt die Idee ihrem Seyn und Wesen nach durch ihr Object bedingt wird, aber dieses alles nicht umgekehrt". 95

9. Adäquatheit versus Korrespondenz?

Die Machereysche Deutung bereitet eine weitere Schwierigkeit, die wir schon oben tangierten. Wenn es wirklich stimmt, daß die Adäquation bei Spinoza "tout le contraire" der Korrespondenz ist und Spinoza ein Vorläufer Hegelscher Wahrheitstheorie, dann wäre Hegels ständiges Bemühen, Spinoza gegenüber so viel Distanz wie möglich einzunehmen, ziemlich unbegreiflich. Macherey sucht den Knoten dadurch zu lösen, daß er behauptet: Gerade an der Stelle, wo Hegel Spinoza am nächsten steht, nämlich in seiner Theorie der Wahrheit, suche er diese ihm unbequeme Verwandtschaft dadurch zu verwischen, daß er Spinoza "eine fiktive Doktrin" zuschreibt, "fabriquée pour les besoins de la cause", die Spinozas historische Verdienste verringert, und er kritisiert dann diese fiktive Doktrin. 96

Es stimmt, daß die materialistischen Konsequenzen des Spinozismus für Hegel unannehmbar waren. Nur, wenn es so ist, scheint Macherey wieder in Widerspruch zu sich selbst zu geraten: Wenn Spinoza ein Materialist ist, von dem Hegel sich distanzieren wollte, wie konnte Spinoza dann eine der Hegelschen ähnliche Wahrheitstheorie entwickeln? Das Geheimnis dieser Widersprüche ist natürlich, daß die Position der Althusser-Schule in der Wahrheitstheorie in ihrem Kern nicht materialistisch ist (trotz gegensätzlichem Selbstverständnis der Vertreter dieser Schule); wenn man Spinoza da


93 Sigwart 1839, S. 139.

94 Ebd. S. 140.

95 Ebd. S. 142.

96 Macherey 1979, S. 90 f.


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in den Zeugenstand ruft, erhält man Aussagen, die nicht ins eigene Konzept passen.

Tatsächlich gibt es Gründe, anzunehmen, daß die Wahrheitstheorie Hegels auf Gedanken aufbaut, die er bei Spinozas Antipoden Leibniz fand, und daß Hegel mit Hilfe Leibnizscher Argumente gegen Spinoza zu Felde zieht. Hegel weist darauf selbst in einer besonderen Anmerkung seiner Logik hin, wo er schreibt, bei Spinoza fehle die "Reflexion-in-sich", die man andererseits bei Leibniz finde, da sie "in dem Begriffe der Leibnizschen Monade ergänzt ist". Spinoza ist nicht bis zur Negation der Negation vorgedrungen, während die Monade von Leibniz schon "ein in sich reflektiertes Negatives" ist. 97 Hier, in der Leibnizschen Monadologie, ist schon Hegels Prinzip von Erkenntnis als ein Übereinstimmen mit ihrem Inhalt angedeutet: die reflexive Tätigkeit der Monaden, womit sie die Welt widergeben, ist selbstbezüglich. Hegel wendet dieses Prinzip der Monadologie ausdrücklich gegen den Spinozismus an, was unverständlich wäre, wenn Spinozas und Hegels Ansichten hier zusammenfielen. 98

Spinoza, sagt Macherey weiter, begreift den Prozeß der Erkenntnis "in einer nicht evolutiven Weise, als einen Prozeß ohne Endzweck (comme un procès sans fin): einen Prozeß der Selbstdetermination des Denkens [...] Einem Prozeß ohne Endzweck, aber darin konnte Hegel nicht zustimmen". 99

Das Denken ist bei Spinoza wirklich in dem Masse ein sich selbst determinierender Prozess, als der Körper die Seele nicht determinieren kann und umgekehrt (Eth. III.2). Doch ist das Denken nicht ein isolierter Prozess, denn Spinoza hebt andernorts (III.11) mit aller Deutlichkeit hervor, daß das Denkvermögen vom Tätigkeitsvermögen des Körpers abhängig ist: "Was immer das Tätigkeitsvermögen unseres Körpers mehren oder mindern, fördern oder hemmen mag, so wird die Idee desselben das Denkvermögen unserer Seele mehren oder mindern, fördern oder hemmen".

Und damit nichts Unklares am Prioritätsverhältnis zwischen Körper und Seele haften bleibe, erklärt Spinoza im ausführlichen Scholion dazu: "Die gegenwärtige Existenz unserer Seele hängt nur davon ab, daß die Seele die wirkliche Existenz des Körpers enthält. Endlich habe ich gezeigt, daß die


97 Hegel 969:6, S. 198.

98 Leibniz hat zudem selbst eingestanden, daß die Widerlegung Spinozas eine der erhofften Leistungen der Monadologie sei. "C'est justement par ces Monades, que le Spinosisme est détruit", schrieb er an Bourget (zitiert nach: Feuerbach 1981:III, S. 30. 331 f.).

99 Macherey 1979, S. 94.


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Macht der Seele, wodurch sie die Dinge imaginiert oder sich ihrer erinnert, ebenfalls davon abhängt, daß sie die wirkliche Existenz des Körpers einschließt". 100

Es bleibt somit der Eindruck bestehen, daß die Machereysche Deutung des Adäquationsbegriffs bei Spinoza im Grunde nichts anderes ist als eine Übertragung der These Althussers von dem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen "Erkenntnisobjekt" und "Realobjekt" in den Spinozismus, eines Gegensatzes, der selbstverständlich die Frage nach der Korrespondenz sehr problematisch macht. Von dort kommen wir zur Idee des Wahren als eines "Produkts" und der Erkenntnis als einer "Produktion"; Konzepte, deren


100 Das Argument basiert auf Corollarium und Scholium zu II.8, wo gesagt wird, daß die Ideen nicht-existenter Dinge (d.h. solcher, die nur in den Attributen Gottes begriffen sind) in der unendlichen Idee Gottes ähnlich enthalten sind wie die formalen Wesenheiten der Einzeldinge in Gottes Attributen. Ohne diese Behauptung hier eingehend zu analysieren, sei nur ihr Sinn resümiert: Die Ideen der nicht-existenten Einzeldinge sind nur da, insofern die unendliche Idee Gottes besteht Im Scholium erläutert Spinoza dies mit dem Beispiel eines Kreises, der unendlich viele einander gleiche Rechtecke enthält ("virtuell", könnte man sagen, aber Spinoza gebraucht das Wort nicht); nun nehme man an, daß in den Kreis zwei Rechtecke, D und E, gezeichnet sind; dann existieren zudem die Ideen dieser Rechtecke auch in der Dauer (duratio) und nicht nur als ewig in der Idee des Kreises enthalten. (Wenn auch Wolfson, a.a.O., vol. I. S. 30 ff. wohl richtig bemerkt, daß Prop. II.8 die Lehre Gersonides' vom Wissen Gottes über nichtexistente Dinge zum Hintergrund hat, dürfte dieses Beispiel dennoch auf die Prop. 1 des dritten Buchs von Euklid anspielen: dort wird die Verfahrensweise angegeben, wie man mithilfe einander kreuzender Geraden den Mittelpunkt des Kreises bestimmen kann.) - In ähnlicher Weise nun, sofern der Körper existiert, existiert auch die menschliche Seele in der Dauer, statt sich nur ewig im unendlichen Intellekt Gottes zu befinden. Da die Seele ein Teil von Gottes Intellekt ist, hört sie nicht gänzlich auf, wenn der Körper aufhört zu sein, sondern ihr "melior pars" (Eth. IV. cap. 32) wird sich erhalten. Insofern ist die Seele doppelt determiniert: erstens als Teil des göttlichen Intellekts, der nicht vom endlichen Körper abhängig ist, zweitens aber als "idea corporis", die nur so lange besteht als der Körper, dessen "esse objectivum" sie ist. Die erstgenannte Determination findet in der Ewigkeit und in der natura naturalis statt, die zweite wiederum in der Dauer und in der natura naturata. - In der Welt der Modi (d.h. in Natura naturata) besitzt die Körperlichkeit somit Priorität gegenüber dem Denken. Was den unsterblichen Teil der Seele betrifft, hat Gott selbst natürlich Priorität gegenüber seinem eigenen Intellekt oder der Idee von sich selbst, denn "substantia prior est natura suis affectionibus" (1.1), und da Gott unmöglich nur aus dem Denkattribut bestehen kann (1.9), ist das Denken auch in diesem Falle sekundär, auch wenn es sich um das Denken der unsterblichen Seele handelt.


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Vorläufer - Althusser zufolge - Spinoza war. 101 Es ist bemerkt worden, daß Althusser, wenn er in seinem Anti-Empirismus die Entwicklung wissenschaftlicher Theorien und des Erkenntnisprozesses dergestalt aus diesen selbst und sozusagen immanent ableitet, Althusser tatsächlich wieder zur Hegelschen Autonomie des Denkprozesses gelangt. 102 Auch wundert es nicht, daß Macherey, zumal er von ähnlichen Prinzipien wie Althusser ausgeht, fast notwendigerweise beim "Kronzeugen" Spinoza eine ähnliche Autonomie des Denkens Hegelscher Art finden muß.

Macherey begnügt sich nicht damit, daß er einen Antagonismus zwischen Korrespondenz und Adäquation setzt, indem die Letztgenannte eine solche wahre Idee benennen soll, die eine Beziehung nur mit sich selbst hat. 103 Es scheint, daß er vielmehr noch weiter gehen will und die wahrheitstheoretische Doppeltheit der Korrespondenz und Adäquation zugunsten der Letzteren abzuschaffen strebt. Er schreibt: "Alors prend un sens d'axiome 5 du livre I de l'Éthique qui affirme aussi la convenance de l'idée vraie avec son objet: entre l'idée adéquate et son objet, il y a bien correspondance". Es stimmt, daß auch die adäquaten Ideen mit ihren Gegenständen korrespondieren, anders könnten sie ja nicht wahr sein. Aber Macherey stülpt vielmehr die Sachlage um, denn der zitierte Satz hat folgende Fortsetzung: "...toutefois, le rapport ordinaire entre ces deux termes est renversé: l'idée vraie n'est pas adéquate à son objet parce qu'elle lui correspond; il faut dire au contraire qu'elle lui correspond parce qu'elle est adéquate". 104

Die Ideen können also ihrem Gegenstand entsprechen, weil und nur weil sie adäquat sind. Der Sinn ist hier nicht, daß Adäquation und Korrespondenz reziprok wären, sondern daß die Adäquatheitsrelation nach Macherey primär ist und die Korrespondenz nur sekundär hergestellt wird. Eine solche Ansicht ließe sich damit verteidigen, daß die adäquaten Ideen auf Gott hinweisen und Gott ist immer das Prius im System Spinozas. Doch scheint Spinoza selbst anderer Meinung zu sein. "Alle Ideen, insofern sie auf Gott hinweisen, sind wahr", schreibt er in Prop. II.32, und demonstriert: "Alle Ideen, die in Gott sind, stimmen nämlich mit ihren Gegenständen völlig überein (nach II.7 Coroll.), also sind sie (nach I. Ax. 6) alle wahr. Q. E. D."


101 Althusser 1975, S. 77 f.

102 Bayern, Vogeler, a.a.O., S. 122.

103 Macherey 1979, S. 80: "Ici, nous retrouvons l'idée d'adéquation, qui signifie fondamentalement que l'idée vraie n'a rapport qu'à elle-même". Also: die wahre Idee bezieht sich nur auf sich selbst.

104 Ebd. S. 82 f.


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Spinoza unterstreicht hier also die Korrespondenz, nicht die Adäquation, und verweist auf Corollarium zu Prop. II.7, worin dies damit begründet wird, daß "Gottes Denkvermögen seinem aktuellen Tätigkeitsvermögen gleich ist". Natürlich sind die auf Gott bezogenen Ideen auch adäquat, doch gibt Spinoza in seiner Beweisführung unmissverständlich der Korrespondenzrelation die Priorität.

10. Das "Wahre" im Falschen

Warum stellt die Interpretationsrichtung, der Macherey angehört, die Adäquatheit der Ideen als primär und ihren repräsentativen Charakter als etwas, das erst danach kommt? Offensichtlich liegt hier ein Hysteron proteron vor: der von der Althusser-Schule befürwortete Wahrheitsbegriff fordert die Ablehnung der Repräsentation. Macherey enthüllt die Konsequenz des Althusserianismus, wie seine Analyse des Verhältnisses von Adäquatheit und Repräsentation bei Spinoza offenkundig macht, daß die Ideen auch dann notwendig adäquat sind, wenn sie vom Standpunkt der Korrespondenz aus für falsch betrachtet werden müssen:

"L'idée est totalement adéquate, dans la mesure où elle est ainsi nécessairement, en l'absence de toute intervention d'un libre-arbitre: là est la clé de son objectivité. Cela est exprimé par Spinoza dans une formule provocante: Toutes les idées, en tant qu'elles sont rapportées à Dieu sont vraies'. 'En tant qu'elles sont rapportées à Dieu', c'est-à-dire en tant qu'elles sont comprises d'après la nécessité causale du procès qui les a engendrées. De ce point de vue, toutes les idées sont adéquates, toutes les idées sont vraies. Toutes les idées, c'est-à-dire aussi les idées inadéquates ou confuses: les idées fausses sont vraies aussi à leur manière. C'est pourquoi Spinoza écrit: 'verum index sui et falsi'". 105

Wir haben diese Stelle in extenso zitiert, weil darin die symptomatische "Verschiebung" exemplarisch zum Vorschein kommt, die nicht nur für die Althusser-Schule, sondern für "nietzscheanisierende" Spinoza-Interpretationen überhaupt kennzeichnend ist. Macherey zitiert Spinoza natürlich richtig (wir haben die Stelle, Eth. II.32, oben besprochen), obgleich es sonderbarerweise seiner Aufmerksamkeit entgleitet, daß Spinoza an dieser Stelle die auf Gott bezogene Ideen wahre, nicht adäquate nennt. Aber lassen wir das beiseite. Wichtiger ist, daß er Spinozas Satz "Alle Ideen sind


105 Ebd. S. 83.


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wahr" (insofern sie nämlich auf Gott bezogen sind) in die Form uminterpretiert: "alle Ideen" - nämlich überhaupt und auch außerhalb dieses Bezuges auf Gott - "sind adäquat, alle Ideen sind wahr". Denn auch die falschen Ideen folgen mit der gleichen Notwendigkeit wie die wahren, weil sie auf jemandes einzelne Seele (ad singularem alicujus mentem) bezogen werden (vgl. Eth. II.36 mit Dem.). Daraus zieht Macherey den Schluß, daß "auch die falschen Ideen auf ihre Weise wahr sind". Dies impliziert, daß es eigentlich gar keine falschen Ideen gibt.

Wir haben hier keine Kleinkorrektur vor uns, sondern eine "gewaltsame Lektüre", 106 die die Gestalt dessen, was man Spinozismus nennt, wesentlich verändert. Zudem handelt es sich dabei um eine Fehlinterpretation. Spinoza sagte ausdrücklich, die Falschheit der Ideen besteht aus einem Mangel der Erkenntnis, der aus "verstümmelten und verworrenen Ideen" herrührt (II.35). Diese verstümmelten und inadäquaten Ideen werden in Gott adäquat, weil Gott die Dinge nicht nur "teilweise" (ex parte) wahrnimmt, wie der Mensch es tut (vgl. II.11 coroll.). Der inadäquate Charakter der Ideen verschwindet (wird "aufgehoben" - Spinoza gebraucht diesen Terminus aber natürlich nicht) in Gott, weil sie in ihm in einen Zusammenhang mit allen anderen Ideen gestellt werden. Der Zusammenhang zeigt die Ursachen der Verstümmelungen und überwindet den "ex parte"‑Standpunkt Wenn es also die Meinung Spinozas war, daß die Inadäquatheit und Falschheit der Ideen in Gott beseitigt werden, ist Macherey offenbar der Ansicht, daß die falschen Ideen irgendwie ihre Falschheit auch dann noch beibehalten werden, wenn sie in Gott und adäquat geworden sind.

Macherey begründet seine Position mit der Feststellung, daß "il y a dans la nature même du vrai quelque chose qui fait référence à la possibilité de l'erreur et qui l'explique". 107 Es wäre sehr interessant, Näheres über dieses "quelque chose" zu hören, das im Wahren das Nicht-Wahre, also das Falsche begründen soll. Interessant vor allem, weil dasselbe "Quelque chose" in einer fast wortgetreuen Formulierung bei Gilles Deleuze vorkommt: "Sous son premier aspect, l'idée inadéquate est fausse; mais, sous le deuxième, elle contient quelque chose de positif, donc quelque chose de


106 "Toute lecture authentique est à sa manière violente", sagt Macherey, wenn er Hegels Spinoza-Lektüre kommentiert (ebd. S. 141).

107 Ebd. S. 83.


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vrai". 108 Letzten Endes würde uns die Enträtselung dieses "quelque chose" ins Gefilde der lebensphilosophischen Wahrheitserörterung führen. 109

Bei Spinoza jedoch wäre dergleichen schwer zu finden. Er ist in dieser Hinsicht sehr explizit und entschieden: "In den Ideen gibt es nichts Positives, wonach sie falsch genannt werden könnten" (II.33). Anders ausgedrückt: im Wahren selbst gibt es keine Instanz, die das Falsche als eine positive Entität begründen könnte. Nun legt Macherey aber die Sache in gerade entgegengesetzter Weise aus:

"Nous sommes esclaves de l'imagination. Dans la vie que celle-ci nous fait, le libre-arbitre n'est lui-même qu'une illusion nécessaire [...] L'imagination ignore les causes qui déterminent réellement notre activité, mais elle ne les supprime pas: en ce sens, il y a dans la connaissance inadéquate quelque chose qui n'est pas purement subjectif [sic! - V.O.] et qui est lui-même vrai à sa manière". 110

In diesem Passus gibt es zwei Stichworte: "Imagination" und "notwendige Illusion", auf die wir noch zurückkommen werden. Betrachten wir indes erst kurz Machereys Bestimmung dessen, was dieses "quelque chose", dieses "Etwas", das auch im Falschen sich als wahr erweisen sollte, eigentlich zum Inhalt hat.

Es handelt sich um "etwas, was nicht rein subjektiv ist" und so "wahr auf seine Weise" sei. Die Überlegung ist also: wenn das Falsche als nicht-subjektiv hervortritt, ist es sozusagen eine objektive Falschheit, die ihrerseits - gerade ihrer Objektivität wegen - dann "vrai à sa manière" sein muß. Die Vorstellung, daß auch das Falsche objektiv begründet sei, ist in der Tat nur eine andere Art, die Kategorie der Objektivität überhaupt, wie sie im Begriff des Subjekts mitgedacht ist, zu liquidieren - auch dies ein Motiv "nietzscheanisierender" Erkenntnistheorien.

108 Deleuze 1968a, S. 135. Hervorhebung von Deleuze. Mit dem "ersten Aspekt" meint Deleuze den Standpunkt der Privation, den er also für unzureichend hält und mit einem zweiten ergänzen will. "Il y a donc", fährt er fort, "quelque chose de positif dans l'idée inadéquate".


109 Eine repräsentative Formulierung: "...wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, daß die falschesten Urteile [...] uns die unentbehrlichsten sind [...] Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn [...]; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse" (Nietzsche 1930:II, S. 4). Das "Positive" im Irrtum - eben das gesuchte "Quelque chose"! - sollte demnach in seinen lebensförderlichen Funktionen bestehen bleiben.

110 Macherey 1979, S. 86.


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Eigentlich sollte es damit gar nicht so schlecht bestellt sein, denn es stimmt ja in trivialer Weise, daß der Erkenntnisprozeß auf objektive Hindernisse stösst, die notwendigerweise und sogar gesetzmäßig zu falschen Vorstellungen führen. Das verstand natürlich auch Spinoza gut: "Ideae inadaequatae, & confusae eadem necessitate consequuntur, ac adaequatae, sive clarae, ac distinctae ideae" (II.36). Das Problematische im Standpunkt Machereys liegt aber näher darin, daß die Quelle der Falschheit nicht im endlich-subjektiven Faktor des Erkenntnisprozesses gesucht wird. Das Falschheitsmoment sei schon für sich genommen objektiv. Als Ergebnis müßte auch Gott falsche Ideen (Illusionen) haben.

Weil Wahres und Falsches als erkenntnistheoretische Kategorien die Subjekt-Objekt-Beziehung voraussetzen, ist der Gedanke einer "objektiven", d.h. subjektunabhängigen Falschheit eine Contradictio in adiecto. Schon Aristoteles sagte: "Das Falsche und das Wahre sind nicht in den Sachen [...], sondern im Denken" (en dianoia; Met. VI.4, 1027 b). Man könnte einwenden, daß wenn man die aristotelische Wahrheitskonzeption - die Übereinstimmung von Sache und Begriff - verwirft, das Feld für Neuinterpretationen und "alternative" Wahrheitstheorien offensteht. Doch dürfte es als gesichert gelten, daß Spinoza eben in seiner Lehre von der Wahrheit kein Anti-Aristoteliker ist, obgleich der Begriff der Adäquation dazu wesentliche Ergänzungen hinzufügt (darüber unten bald ausführlicher). In die Fußstapfen der aristotelischen Tradition tritt Spinoza aber auch insofern, als es nach ihm unmöglich ist, absolut falsche Ideen zu bilden; es muß in den Ideen immer ein Residuum des Wahren erhalten bleiben.

Die anti-aristotelische Tendenz ist symptomatisch für die ganze Lesart der Althusserianer. Nachdem dieser entscheidende Schritt zur Uminterpretation getan ist, ist es leicht, Spinoza zum Antizipator einer "neuen" Ideologietheorie hochzustilisieren. Erinnern wir uns daran, wie Althusser in seiner Selbstkritik bemerkte, daß Spinoza wegen seiner Verwerfung des sowohl Aristotelischen als auch Cartesischen Wahrheitskriteriums dazu kam, "wohl die erste jemals gedachte Theorie der Ideologie" zu konzipieren, die "imaginäre 'Realitäten'" zum Gegenstand hat. 111 Wie wir gesehen haben, ist dies eine Theorie der Ideologie als einer objektiven Illusion, einer Falschheit, die materielle Kraft besitzt und insofern zeitweise sogar dem Wahren ebenbürtig ist


111 Althusser 1975, S. 75 f.


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Auch Macherey verleiht der Falschheit eine "materielle Kraft" im Althusserschen Sinne und vermengt somit Wahres und Falsches an der Stelle, wo er Spinozas Theorie der Imagination behandelt:

"Qu'est donc qui est vrai dans l'idée fausse? Reprenons l'exemple du soleil que nous voyons d'abord à deux cents pas [dieses Beispiel stammt von Descartes und Spinoza bedient sich seiner in Eth. II.35 schol. - V.O.]. Cette 'idée' en Dieu est adéquate et vraie. C'est en nous qu'elle est mutilée et confuse: parce que nous l'appréhendons incomplètement [...] En quoi cette représentation imaginaire est-elle pourtant adéquate? En ce qu'elle indique objectivement tout autre chose que l'idéal auquel nous la rapportons spontanément, le soleil: ce qu'elle exprime en fait, c'est la disposition de notre corps, qui nous incline à former du soleil une perception qui en dénature la réalité. Ainsi l'image est fausse par rapport à l'objet qu'elle vise [...] En effet, elle est une idée, une vraie idée sinon une idée vraie: comme telle, elle est adéquate, et elle correspond à un objet qui n'est pas celui que nous lui attribuons immédiatement [...] L'image fausse du soleil est une idée vraie si nous la rapportons à notre propre existence corporelle. En quoi donc est-elle inadéquate? En tant qu'elle est séparée de la connaissance de son objet, auquel elle substitue un autre contenu". 112

Zur Illustration des eben Gesagten zitiert Macherey aus den Pensées von Pascal: "Es ist also wahr, wenn man sagt, alle Menschen leben im Banne der Illusionen: denn wenn auch die Ansichten des Volks gesund sind, sind sie nicht gesund in dem Sinne, den ihnen das Volk gibt, weil es glaubt, daß die Wahrheit dort sei, wo sie nicht ist". Macherey hat die Fortsetzung des Pascal-Zitats weggelassen, was allerdings den Sinn nicht entstellt, aber die gesellschaftliche "Notwendigkeit" der Illusionen stärker hervorheben würde: "So ist es wahr, daß den Adligen Hochachtung erwiesen sein muß, aber nicht deswegen, weil die Geburt ein wirklicher Vorteil wäre". Die Geburt, meint Pascal, ist zwar kein wirklicher Vorzug, aber nichtsdestoweniger ist der Glaube daran eine nützliche Illusion, indem er den Gesellschaftszustand aufrechterhält. 113 Pascals Attitüde hat einen historischen Vorläufer in der platonischen "Kalon pseudos"‑Lehre (vgl. Politeia, III, 389 B sqq., 414 B sqq.), worauf Pascal selbst übrigens in seinen Pensées hinweist. Aber noch einmal: die Althussersche Lektüre geht nicht auf diese fernen Vorgänger zurück (die trotz allem meinten, es gebe unabhängig vom Nutzen der


112 Macherey 1979, S. 87 f.

113 vgl. Pascal 1977:I, S. 98 (Fragment 85 = Fr. 335 der Edition von Brunschwicg).


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Lüge eine objektive Wahrheit), sondern auf die wahrheitsrelativistischen Lehren unserer Epoche.

11. Die Entwicklung des Begriffs der adäquaten Idee bei Spinoza

Spinoza hat die Lehre von der Adäquation, wie wir ihr in der Ethik begegnen, nicht von Anfang an vertreten. Im Kapitel II.15 seiner Jugendarbeit Korte Verhandeling, betitelt "Vom Wahren und Falschen", definiert er die Wahrheit ausschließlich im korrespondenztheoretischen Sinne. Zudem hebt er nachdrücklich die Passivität des Erkennens hervor: "...das Verstehen ist (obgleich dies Wort anders klingt) bloßes oder reines Leiden, das heißt, unsere Seele wird derart verändert, daß sie andere Modi des Denkens empfängt, die sie zuvor nicht hatte" (G I, S. 79). 114

Aber in der Korte Verhandeling wird auch ein anderes Erkenntnisprinzip formuliert, obgleich nur gestreift. Die Vernunft "ist uns nicht von außen gekommen" (KV cap. II.21; G I, S. 99). Dies impliziert, daß die Ideen der Vernunft doch nicht aus bloßer Repräsentation äußerer Dinge bestehen. Dieselbe Zwiefältigkeit wird ganz am Ende der Schrift noch einmal festgehalten, in der Beilage II, die die menschliche Seele behandelt Hier sagt Spinoza zuerst - völlig korrespondenztheoretisch -, daß "die Idee aus dem Dasein des Gegenstandes entspringt", so daß die Idee sich nach den Veränderungen des Gegenstandes modifiziert; dann aber fährt er fort, daß der Gegenstand nicht dem Wesen der Seele zukommen kann, weil es zwischen ihnen einen realen Unterschied gibt ("het voorwerp... van de ziel dadelyk onderscheiden word"; G I, S. 118). 115 Hier kreuzen sich zwei Problemfelder. Erstens: Spinoza teilt also hier noch die Cartesische Auffassung von der Realdistinktion zwischen Körper und Seele. Und zweitens: er sieht im Erkennen sowohl ein passives (repräsentatives) als auch ein aktives Moment, ohne sie hier schon miteinander versöhnen zu können. 116


114 Die Stelle weicht in der Redaktion Monnikhoffs etwas ab, doch bleibt der Sinn derselbe, vgl. G I, S. 577 f.

115 Bei Monnikhoff: "...het voorwerp van de Denking [...] dadelijk is onderschijden" (G I, S. 607).

116 Vgl. Mignini 1986, S. 27 ff., bes. S. 31 ff.


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In dem etwas späteren 117 Tractatus de intellectus emendatione klingt Spinozas Stimme schon ganz anders. "Mit der gleichen Entschiedenheit", beschreibt Ernst Cassirer die Umwandlung, "in der zuvor das Erkennen als 'reines Leiden' bezeichnet, in der also die Übereinstimmung mit dem Objekt als höchster Maßstab für die Gewissheit der Idee proklamiert war, tritt jetzt die entgegengesetzte Grundanschauung hervor. Der wahre Gedanke kann vom falschen nicht nur durch eine äußerliche, zufällige Beziehung unterschieden sein, sondern in ihm selbst muß das Kriterium für seinen Wert und seine Gültigkeit liegen. Was einen Gedanken zum wahren Gedanken macht [...], das [...] muß 'von der Kraft und Natur des Intellekts selbst abhängen'". 118

Ein Beweis von der Kraft des Intellekts sind die mathematischen Objekte, von denen Spinoza im Tractatus die Kugel und ihre Definition betrachtet. Diese Definition brauche nämlich nichts anderes in sich zu enthalten, als den Aufweis des Gesetzes, nach welchem wir die Kugel "ad libitum causam" erzeugen, beispielweise so "daß ein Halbkreis sich um seinen Mittelpunkt dreht". Spinoza erklärt, bemerkenswert auch dies, daß diese Idee "gewiß wahr" ist, auch "wenn wir wissen, daß keine Kugel in der Natur je so entstanden ist" (G II, S. 27).

Und somit, fährt Cassirer fort, hat Spinoza eine Erkenntnisart gefunden, "die nicht von den Teilen zum Ganzen fortgeht, sondern von der Idee der unendlichen Totalität aus [...] das einzelne bestimmt Jetzt erst hat die 'Idee' diejenige Bedeutung gewonnen, die ihr im reifen System Spinozas zukommt". 119 Man kann den veränderten Standpunkt im Tractatus auch so beschreiben, daß der erkennende Mensch nicht nur ein passiv-empfangender Teil der natura naturata ist, sondern dank seiner Aktivität auch an der natura naturans teilnimmt, und insofern ist seine Erkenntnis gottähnlich.

Doch wäre Cassirers Darstellung dahingehend zu ergänzen, daß sich Spinoza dann später, in der endgültigen Fassung seiner Philosophie in der


117 Wir folgen der traditionellen Datierung von Spinozas Schriften, obgleich Mignini den Tractatus zeitlich früher als die Korte Verhandeling setzen will. Er meint, daß der Tractatus 1658-1659 geschrieben sei, die Korte Verhandeling wiederum um 1660-1661 (s. die vorige Fussnote und Mignini 1983, S. 170). Doch dürfte das Gegenteil der Fall sein.

118 Cassirer 1971, S. 183. Das Spinoza-Zitat ("Quare forma verae cogitationis... ab ipsa intellectus potentia, & natura pendere debet") in G II, S. 26 f.

119 Cassirer, a.a.O., S. 184.


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Ethik, vom Erkenntnis-Utopismus des Tractatus 120 wieder distanzierte. Vom Tractatus bleibt die Einsicht erhalten, daß eine bloße Korrespondenz als Kriterium der Erkenntnis nicht hinreicht; auch die Aktivität des Subjekts müsse berücksichtigt werden.

Die Doppeltheit der "ersten" und "zweiten" Natur (natura naturata und natura naturans) zeigt sich somit auch in der Wahrheitstheorie des reifen Spinoza, denn die Wahrheit ist 1) fortwährend Korrespondenz; 2) ein internes Verhältnis von Ideen, dank dessen das Erkennen nicht an den "communis ordo Naturae" gebunden bleibt, das nur "confusam tantum, & mutilatam [...] cognitionem" gibt (vgl. Eth. II.29 coroll.), sondern die Totalität - d.h. Gott - erfassen kann. Diese Doppeltheit bleibt durch das ganze System bestehen, und noch im fünften Buch der Ethik kann Spinoza schreiben: "Die Dinge werden von uns in zweifacher Weise als aktual aufgefaßt: entweder insofern wir sie mit Beziehung auf eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort auffassen, oder als in Gott enthalten und aus der Notwendigkeit seiner göttlichen Natur folgend" (V.29 schol.).

Während die Korrespondenzrelation zwischen Objekten und Ideen in den wahren Ideen festgelegt wird, weist die Adäquatheitsrelation auf die Dinge, wie sie in Gott sind.

12. Was die adäquaten Ideen sind und wie sie verstanden werden können

Man begreift Spinozas Lehre von den adäquaten Ideen nur, wenn man einsieht, daß er damit eine schon bei Descartes vorkommende und nie gelöste Problematik zu meistern suchte - eine Problematik, die um die Descar-


120 Mit dem "Utopismus" meine ich das im Tractatus umrissene Verständnis der "vera Methodus" als der Weg, den man zu folgen hat, "ut ipsa Veritas, aut essentiae objectivae rerum, aut ideae [...] debito ordine" nachzuforschen. D.h. daß diese Methode nichts anderes sei als die "cognitio reflexiva" oder "idea ideae" (G II, S. 15 f.). - Im Brief an Johann Bouwmeester vom 10. Juni 1666 hat sich der Ton schon mehr zugunsten des Empirismus verschoben: "vera Methodus" bestehe lediglich "in dem Erkennen mittels des reinen Verstandes", was vor allem voraussetzt, daß man zwischen Verstand und Imagination unterscheidet. Dazu bedarf es aber nicht "der Erkenntnis der Natur unserer Seele aus ihrer ersten Ursache, sondern es genügt, eine Beschreibung der Seele oder der Vorstellungen in der Weise zusammenzustellen (sufficit mentis, sive perceptionum historiolam concinnare), wie Verulamius lehrt" (G IV, S. 188 f.). Der Empiriker Baco steht somit beim reifen Spinoza wieder in der Gunst.


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tesschen Begriffe der "Klarheit und Deutlichkeit" wahrer Ideen kreist Spinoza hat diese Begriffe von Descartes übernommen und sie spielen eine zentrale Rolle in seinem Methodenverständnis im Tractatus. Ziel der Methode, heißt es doch dort, sei "der Besitz von klaren und deutlichen Ideen, d.h. von solchen, die rein aus der Seele und nicht aus zufälligen Bewegungen des Körpers gebildet sind"; G II, S. 34.

Die bekannte methodische Regel von Descartes - erstmals in der dritten Meditation formuliert - klingt ähnlich: Alles, was man "klar" und "deutlich" einsehen kann, muß auch wahr sein. Doch war dieser Standpunkt, wie Alan Gewirth gezeigt hat, alles andere als unproblematisch, denn bei Descartes haben die Ideen - wie auch bei Spinoza - einen doppelten Status: sie sind nicht nur Repräsentationen der Dinge außerhalb des Denkens (also "objective"), sondern auch "formale" Entitäten, d.h. an sich daseiende Modi der substantia cogitans. Daraus aber folgt, daß die Klarheit und Deutlichkeit einer Idee nicht allein in ihrer Korrespondenzrelation zum äußeren Gegenstand entstehen kann. Denn damit die Seele einsehen kann, daß eine Idee wahr ist, muß sie diese Idee - nach Descartes - eben als etwas "Formales" betrachten, d.h. zum Gegenstand für sich machen. Die Klarheit und Deutlichkeit einer Idee kann somit nicht unmittelbar aus einer Korrespondenzrelation geschlossen werden, denn es handelt sich für Descartes um "innere Qualitäten der Ideen und perzeptiver Akte". 121

Dieses "Mehr" als bloße Korrespondenz sucht nun Spinoza mit seinem Begriff der adäquaten Ideen besser als Descartes in den Griff zu bekommen. In den adäquaten Ideen werden die Bewußtseinszustände von ihrer "formalen" Seite her betrachtet (Ideen als Gegenstände anderer Ideen). Doch folgt daraus nicht, daß die Korrespondenzrelation beiseite geschoben würde, wie die althusserianische Interpretation meint. 122 Im Scholion zu Proposition II.43 schreibt Spinoza: "Was endlich die letzte Frage anlangt, nämlich woher der Mensch wissen könne, daß er eine Idee habe, die mit ihrem Gegenstande übereinstimmt, so habe ich eben ausführlich gezeigt, daß dies nur daher komme, weil er eine Idee hat, die mit ihrem Gegenstande übereinstimmt, oder weil die Wahrheit ihr eigenes Richtmaß ist". In diesem


121 Gewirth 1970, S. 254.

122 Es ist demnach Filippo Mignini zuzustimmen: "Just as adequacy does not exclude, but in fact implies (although not formally) the concordance of the idea with the object, thus the idea - understood as activity of the mind - does not exclude, but actually implies, the idea or perception understood as a representation of the object" (Mignini 1986, S. 48).


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Passus werden Übereinstimmung und Adäquatheit (ein ideeninternes Verhältnis) gleichgesetzt: auch die adäquaten Ideen müssen ihrem Gegenstand entsprechen. Zudem sind sie aber auch etwas mehr. Neben dieser spezifischen Gegenstandsbeziehung weisen die adäquaten Ideen zugleich auch auf Gott hin (vgl. II.34 dem.), d.h. sie sind auf die Substanz in ihrer Totalität - auf die natura naturans - bezogen.

Die Relation der Adäquation steht also zur Korrespondenzrelation nicht in Widerspruch, sondern fügt der Letzgenannten nur die zusätzliche Bestimmung hinzu, daß in der Adäquation der Gegenstand des Wissens in Gott gesehen wird. Diese Bezogenheit der wahren Idee zu Gott bildet den Kern des Unterschieds, den es zwischen Spinoza und Descartes hier gibt.

Auch das Selbstbewußtsein ist für Spinoza eine Idee der Idee und somit eine ideeninterne Relation. Er sagt ausdrücklich, daß die "idea mentis" mit der Seele (mens) ebenso vereinigt ist wie die Seele mit dem Körper (Eth. II.21). Das heißt: Die Seele ist "objective" das, was der Körper "formaliter" ist. Die Idee der Seele wiederum ist "objective" das, was die Seele "formaliter" ist. Doch ist diese Idee der Seele für Spinoza nicht lediglich individuelles Selbstbewußtsein wie im Cartesischen "Cogito". Die Idee der Seele ist nämlich auch in Gott und sie "folgt in Gott auf dieselbe Weise und bezieht sich in derselben Weise auf Gott, wie die Idee oder Erkenntnis des menschlichen Körpers" (II.20). Erst in Gott wird die Idee der Seele zur adäquaten Idee. Zwar war Gott auch für Descartes die Garantie dafür, daß wir uns nicht täuschen, aber der Cartesische Gott erfüllt dabei dennoch nur die Funktion eines Deus ex machina, der zu Hilfe eilt, wenn die vom Leib-Seele-Dualismus verursachten Probleme unbewältigt zu werden drohen. Bei Spinoza bleibt Gott nicht dergestalt im Hintergrund, sondern ist das aktive Prinzip, das im Erkenntnisprozeß immer präsent ist.

Die adäquate Idee weist also auf Gott hin und vermittelt die Idee eines Einzeldings mit der Idee Gottes. Insofern handelt es sich bei den adäquaten Ideen um ein Verhältnis innerhalb der "Welt der Ideen" ohne Korrespondenz-Bezug zum äußeren Objekt. Spinoza entwickelt hier die Cartesischen Gedanken konsequent weiter, weil auch bei ihm die Ideen sowohl "formaliter" als auch "objective" im Rahmen des Attributs des Denkens existieren. Er geht allerdings weiter als Descartes, indem er seine berühmte Lehre von den "Ideen der Ideen" entwirft.

Die Eigenschaft der Ideen, sowohl "formale" als auch "objektive" Entitäten zu sein, führt folgerichtig zur Lehre, daß eine Idee Gegenstand einer anderen sein kann. Der dabei sich bildende Regreß verknüpft schließlich


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alle Ideen der Einzeldinge mit der Idee Gottes. 123 Sie ist eben die "wahre Idee", die wir von Anfang an ("enim") haben, weil die menschliche Seele ein Teil des unendlichen Intellekts Gottes ist (II.11 coroll.; II.43 schol.). Damit sind die adäquaten Ideen für Spinoza immer Ideen der Ideen, weil sie Glieder in der Kette des auf Gott hinweisenden Regresses der Ideen sind. (Die Idee Gottes ist ihrerseits mit sich selbst verknüpft, weil Gott "per se concipitur"). Zugleich aber bringen die Ideen im ganzen Verlauf dieses Regresses gleichsam ihren ursprünglichen repräsentativen Gehalt mit sich. Täten sie das nicht, würden die Ideen nicht mehr definitionsgemäß solche Entitäten sein, die "objective" das enthalten, was in ihrem Gegenstande "formaliter" bzw. "realiter" ist, 124 d.h. sie würden aufhören, Ideen zu sein.

13. Zwischenbetrachtung: Von der angeblichen "Andersheit" Spinozas

Im Lichte des oben Gesagten kann man sich schwerlich der nietzscheanisch-lebensphilosophisch inspirierten Spinoza-Deutung anschließen, die behauptet, Spinoza breche definitiv mit der cartesianischen Methodenproblematik wie mit der Korrespondenz-These allgemein. Der Mangel der Cartesischen Methode lag in Spinozas Augen nicht darin, daß diese in den Ideen Repräsentationen der äußeren Objekte sah, sondern der, daß sie wegen ihrer dualistischen Grundsuppositionen dieses Prinzip nicht konsequent begründen oder durchführen konnte.

Die Ansätze zur Überwindung des Dualismus fanden sich tatsächlich schon bei Descartes selbst. Sein System enthielt widersprüchliche Elemente, die in mehreren Richtungen entwickelt werden konnten: entweder in einen Monismus (wie bei Spinoza), oder dann auch z.B. zu solchen Syste-

123 Wie kommt dies zustande? Erinnern wir uns noch einmal an das geometrische Beispiel im Corollarium zu II.8. Es handelte sich um die im Prinzip unendliche Menge von Rechtecken, die in einen Kreis gezeichnet weiden können. Mit der Idee des gegebenen Kreises und der darin enthaltenen Geraden haben wir nun zugleich implizit die Idee des Mittelpunktes des Kreises, der immer gefunden werden kann - unabhängig davon, wo im Kreis die Geraden gezeichnet worden sind -, wenn man der von Euklid im Prop. 1 zu Buch HI angegebenen Verfahrensweise folgt Jeder beliebige Punkt im Kreise weist somit in "versteckter" Weise auf den Mittelpunkt hin und "hat" am Wesen des Kreises "teil". In ähnlicher Weise gelingt man von der beliebigen Idee irgendeines Einzeldings zur Idee Gottes.


124 "Idea eodem modo se habet objective, ac ipsius ideatum se habet realiter" (G II, S. 16).


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men, in denen man den Dualismus beibehaltend das Seele-Körper-Problem mit verschiedenen gefinkelten Konstruktionen zu lösen versuchte (wie etwa der Okkasionalismus Malebranches). In diesem Sinne läßt sich sagen, Descartes bereitete den Spinozismus vor. 125 Spinozismus ist somit nicht nur der Antipode des Cartesianismus und radikale "Andersheit" im Verhältnis dazu. Die Philosophie Spinozas ist auch das Resultat und die "Wahrheit" des Cartesianismus, konsequent durchgeführter und vollendeter Cartesianismus.

Wie paradox dies klingen mag: Descartes war selbst nicht genug cartesianisch. In der sechsten Meditation bekannte er, daß er mit der Natur "im allgemeinen betrachtet" nichts anderes meine als "entweder Gott selbst oder die von Gott gesetzte Ordnung der geschaffenen Dinge". 126 Und dies ist ja schon die "deus sive natura"-These Spinozas. Aber Descartes zieht aus seinen eigenen Worten nicht die nötigen Schlüsse. Er bleibt gleichsam auf halbem Wege stehen und verharrt im Dualismus. Dieses Zögern hat mehrere Motive, von denen eines der wichtigsten das Bedürfnis ist, das sakrosankte Dogma der Willensfreiheit unangetastet zu lassen.

Jedoch ist es interessant zu beobachten, wie die innovatorischen theoretischen Programme der Neuzeit Ansätze zu einer weitaus radikaleren Weltansicht enthalten, als die Vertreter der klassischen Tradition in den meisten Fällen selbst bereit waren, anzunehmen. (Besonders trifft dies auf Leibniz zu, dessen konfliktscheuer Charakter ihn immer wieder zu Kompromissen führte und seinen Eklektizismus bedingt 127).

Descartes war weniger kompromissbereit. Seine Konzessionen an die Theologie betreffen nicht den Kern der Lehre, wie bei Leibniz, sondern folgen mehr dem - allerdings schon in der Scholastik entwickelten - Prinzip der "veritas duplex". Statt also in Spinoza "den ganz Anderen" im Verhältnis hinsichtlich der rationalistischen Tradition zu erblicken, ist es richtiger zu sagen, er hat diese mit aller Konsequenz weitergeführt. Eine andere Sa-


125 So Ljatker 1984, S. 100. Nach Ljatker bilde die Identität von Gott und Natur die "geheime Idee" des heute teilweise verschollenen Traktats Le Monde, ou Traité de la lumière (fertiggestellt 1633), ebd. S. 118.

126 "Per naturam enim, generaliter spectatam, nihil nunc aliud quam vel Deum ipsum, vel rerum creatarum coordinationem a Deo instructam intelligo" (Meditatio IV).

127 Eine gute Charakterisierung von Leibniz als Denker liefert Friedmann 1962, S. 245 ff. Der neuzeitliche Rationalismus tritt bei Leibniz nicht in der reinen Form auf, sondern im Kompromiss mit der Theologie und Scholastik, nach der Devise "conciliare veritatem pietati".


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che ist es dann, daß ein auf diese Weise zur Spitze getriebener Rationalismus zu Paradoxien führt, so daß der "Fall Spinoza" dadurch, wie Teodor Oiserman treffend bemerkte, zum "Skandal in der Metaphysik" führte. 128

Wir haben schon oben den Standpunkt der Althusserianer und den von Negri einen "ultralinken" genannt, weil er das Außenseitertum Spinozas übertreibt. Eine solche Deutung geht einerseits auf eine schlechte, reduktionistische Tradition innerhalb des Marxismus zurück, die schon im vorigen Jahrhundert Fuß faßte und dazu führte, daß man in den Denkern des frühen Bürgertums nur Vertreter des bürgerlichen Klasseninteresses sah. Als Beispiel sei die Charakterisierung Lockes durch Franz Mehring zitiert "Das Lebenswerk, das er vollbracht hat, bestand in der Rechtfertigung und Verteidigung des Kompromisses, womit die englische Bourgeoisie die englische Revolution des 17. Jahrhunderts abschloß". 129

Was die gesellschaftliche Bedeutung Lockes und seines Werkes betrifft, kann der Einschätzung von Mehring nicht widersprochen werden. Aber kann man damit auch sagen, daß Lockes Philosophie durch und durch "englisch-bürgerlich" ist, also völlig in ihrer Klassenspezifik aufgeht? Ist es nicht vielmehr so, daß die meisten philosophischen Kategorien, die Locke anwendet, eine mindestens zweitausendjährige Geschichte hinter sich haben, ein mächtiges geistiges Erbe bilden und in diesem Sinne nicht nur klassen- und formationsspezifische Sachverhalte ausdrücken? Eine bejahende Antwort scheint geradezu zwingend zu sein. (Wenn man mit Bacon, 130 Descartes und Spinoza die uns von Generation zu Generation überlieferten Begriffe, Ideen und Konzepte als "intellektuelle Instrumente" be-


128 Oiserman 1976, S. 213. Oiserman analysiert Spinozas Widersprüche, wie uns scheint, dennoch nicht immer überzeugend. Er meint, Spinozas Hauptwiderspruch bestehe darin, daß sein Materialismus unvereinbar ist mit der Form eines metaphysischen Systems, "weil er eine übersinnliche Realität zuläßt" (ebd. S. 212). Es ist schwer einzusehen, warum es einem Materialisten unzulässig wäre, nicht Momente der übersinnlichen Realität zu bejahen - vorausgesetzt, daß sie objektiv sind. Unverständlich ist auch, warum der Standpunkt Spinozas, daß dem Menschen von der unendlichen Zahl der Attribute nur zwei zugänglich sind, "ein Zugeständnis an die Theologie" sein sollte (ebd. S. 214).

129 Mehring 1977, S. 35.

130 Bei Bacon ist die Werkzeug-Analogie im Aphorismus 2 des Novum Organon formuliert: "Nec manus nuda, nec Intellectus sibi permissus, multum valet [...] Atque ut instrumenta manus motum aut cient, aut regunt; Ita & instrumenta Mentis, Intellectui aut suggerunt, aut cavent".


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zeichnet, so ist eine Analogie zu materiellen Werkzeugen auch in dem Sinne nicht weit hergeholt, daß diese bekanntlich nicht restlos klassen- oder formationsspezifisch geprägt sind, sondern Verkörperungen menschlicher Wesenskräfte darstellen).

Bei Mehring war der Reduktionismus noch ziemlich harmlos. Problematisch wurde er später, als der Proletkult-Ideologe Bogdanow die These von den "zwei Wissenschaften" entwarf, die dann im Lyssenkismus ihren hartnäckigen Niederschlag fand. Wir finden in der Tat schon bei Bogdanow im wesentlichen die Althussersche Ideologie-Theorie. "Die Wissenschaft ist die organisierte Erfahrung der menschlichen Arbeitsgemeinschaft" 131 (also nicht die Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit - vgl. Althusser: das Wissen als "Produktion", als soziale Tätigkeit); "In einer Klassengesellschaft verwandelt sich die Wissenschaft [...] in ein Mittel zur Klassenherrschaft"  132 (vgl. Althussers These vom "theoretischen Klassenkampf"). "Was für eine Klasse vernünftig ist, ist ein Unsinn für die andere Klasse und umgekehrt"  133 (d.h. die Vernunft ist nicht allgemeingültig).

Nun fragt man sich, ob der Spinozismus nicht dem späteren progressiven Denken verloren geht, falls man die Rezeptionsform Althussers und Machereys (wie Moreaus - dazu unten) ablehnt Auch ist eine andere Interpretation möglich, die die Berührungspunkte zwischen Spinoza und dem Marxismus beibehält (obgleich man sich sicherlich nicht der These Plechanows anschließen kann, wonach der Marxismus eine Art "moderner Spinozismus" sei).

14. Die Ideen sind doppelt determiniert

In ihrer Kritik am Althusserschen Dualismus zwischen "Erkenntnis-" und "Realobjekt" haben Bayertz und Vogeler eine Position entwickelt, die man die These von der doppelten Bestimmtheit der Erkenntnis nennen konnte. 134 Nachdem sie erst bemerkt haben, daß der Materialismus bei


131 Bogdanow 1971, S. 20.

132 Ebd. S. 28.

133 Ebd. S. 35.

134 So Manninen 1982. Manninen stutzt sich hierbei vor allem auf die Resultate der Bremer Wissenschaftsgeschichtlichen Projekte (Hahn, Knatz, Sandkühler, Bayertz). Es muß jedoch hervorgehoben weiden, daß man, um dieser Position beizustimmen, keineswegs Marxist sein muß. Sie ist mit dem wissenschaftlichen Realis-


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Marx und Lenin nicht nur eine Absage an die Identitätsphilosophie einschließt, sondern auch eine Absage an den Dualismus, präzisieren Bayertz und Vogeler - gegen Althusser polemisierend - dahin, daß die wissenschaftlichen Gegenstände zugleich objektiv-real und "konstituiert" sein müssen:

"Durch die Widerspiegelungstätigkeit des [...] Subjekts wird ein Ausschnitt der Realität zum 'Erkenntnisobjekt', ohne jedoch - und darin kann Althusser nicht nachdrücklich genug zugestimmt werden - identitätsphilosophisch darin aufzugehen. Zugleich aber - und dies muß gegen Althusser festgehalten werden - erweist sich die Annahme von zwei verschiedenen Erkenntnisobjekten bei einem konsequenten Ausgehen von der Dialektik der wissenschaftlichen Tätigkeit als überflüssig und irreführend: die Erkenntnis hat es nur mit einem "Realobjekt' zu tun, das jedoch nicht unabhängig von der Art und Weise erscheint, in der das konkret-historisch bestimmte Subjekt es aneignet". 135

Wie man leicht sieht, hat die Position Bayertz' und Vogelers eine gewisse Ähnlichkeit mit dem spinozistischen Prinzip der "doppelten" Determination der Ideen. Erstens sind die Ideen nach Spinoza - da sie objective dasselbe sind als die Gegenstände formaliter - repräsentative Abbilder der Objekte außerhalb ihrer (also der "Realobjekte"). Zweitens aber wird die Idee "in die Erkenntnistätigkeit des Subjekts einbezogen" 136 und erhält damit andere, zur Korrespondenzrelation zusätzliche (aber nicht gegensätzliche!) Funktionen. Als ein Moment des Erkenntnisprozesses wird die Idee Gegenstand anderer Ideen ("Erkenntnisobjekt") und ein Teil des Regresses der "Ideen der Ideen". Die Doppeltheit der Korrespondenz- und Adäquatheitsrelation spiegelt bei Spinoza gerade diese doppelte Determination der Ideen wider.

Die Weise, in der eine Idee, die mit dem Gegenstand korrespondiert, in dem Prozeß der "Ideen der Ideen" einbezogen wird, ist ja letzten Endes nichts anderes als eine Aneignung und Verarbeitung der repräsentativen Idee des Gegenstandes (wie er anfangs objective im Bewußtsein gegeben ist) durch das erkennende Subjekt. Das Subjekt verhält sich bei Spinoza ge-


mus überhaupt kompatibel. Ich will aber in diesem Zusammenhang auch dafür argumentieren, daß eine andersartig konzipierte marxistische Philosophie als die der Althusserianer möglich ist - eben ein Marxismus, der nicht auf das "ganz Andere" setzt, sondern mit dem geistigen Erbe der Weitphilosophie konform ist.

135 Bayertz & Vogeler 1977, S. 131 f.

136 Ebd. S. 131.


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genüber der Objektwelt keineswegs passiv und die Erkenntnis ist nicht passive Widerspiegelung. Im Gegenteil, die Bildung adäquater Ideen setzt nach Spinoza immer voraus, daß das Subjekt aktiv ist: "Mens nostra [...] quatenus adaequatas habet ideas, necessario agit, & quatenus ideas habet inadaequatas, eatenus necessario quaedam patitur" (Eth. III.1).

Die adäquaten Ideen sind bei Spinoza nicht Konstrukte des Subjekts, aber drücken auch keinen "(Erkenntnis-)Prozeß ohne Subjekt" aus, wie die Althusserianer interpretieren. Denn die Idee ist definitionsgemäß "Mentis conceptum" (Eth. V def. 3), was ein Erkenntnis-Subjekt als einen Träger der "mens", d.h. eine menschliche Seele voraussetzt. Nur die menschliche Seele hat "singulares cogitationes", die auf eine gewisse und determinierte Weise Gottes Natur ausdrücken (II.1 dem.) - Gott als Substanz hat keine solchen cogitationes. Mit anderen Worten: die menschliche Seele formiert Ideen der Einzeldinge, die "Gott zur Ursache haben, nicht insofern er unendlich ist, sondern insofern er als durch eine andere Idee eines wirklich existierenden Einzeldinges" affiziert betrachtet wird usf. (II.9). Des weiteren muß die erste Sache, die das aktuale Sein der menschlichen Seele konstituiert, die Idee eines actu existierenden Einzeldings sein (II.11). Natürlich hat auch Gott dieselben Ideen, aber er hat sie insofern er durch die menschliche Seele expliziert wird (vgl. z.B. V.22 dem.). Eine subjektlose "autodétermination de la pensée", wie Macherey sie sieht, 137 ist auch deswegen nicht plausibel, weil die Bildung der Ideen von aktual existierenden Einzeldingen die Tätigkeit des Körpers voraussetzt

Die Endlichkeit des Subjekts (das, daß es Teil der natura naturata ist) ist aber zugleich die Ursache, daß die menschliche Seele inadäquate (d.h. fragmentarische und verworrene) Ideen bildet. Um volle Adäquatheit zu erlangen, ist ein Rekurs auf Gott als Substanz (natura naturans) notwendig. In den adäquaten Ideen wird somit das subjektive Moment der Erkenntnis in Übereinstimmung mit der objektiven Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten gebracht. So sind auch die adäquaten Ideen solche, die allen Menschen gemein sind und Allgemeines ausdrücken: "Id, quod cognitionem aeternae, et infinitae essentiae Dei dat, omnibus commune, et aeque in parte, ac in toto est, adeoque [...] erit haec cognitio adaequata" (II.46 dem.).

Der erkennende Mensch bildet demnach adäquate Ideen in dem Masse, als er seine anfänglich unklaren und verworrenen Ideen an der Idee Gottes (der die Quelle des Allgemeinen und Gesetzmäßigen ist) teilnehmen läßt Und dieses "Partizipieren" an Gott oder an der natura naturans ist, nach


137 Macherey 1979, S. 94.


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Spinoza, eine Aktivität, denn nur durch die aktive Tätigkeit des Körpers, der die Seele trägt, kann das Allgemeine und Gesetzmäßige aufgefunden und ins Bewußtsein eingeprägt werden. Wären wir passiv, würden wir die gesetzmäßigen Zusammenhänge der Natur niemals aufdecken, sondern die Welt nur "ex parte" und fragmentarisch, also inadäquat wahrnehmen.

Auch in dieser Hinsicht erweist sich die These der Althusserschen Spinoza-Interpretation, daß auch die inadäquaten und falschen Ideen "auf ihre Weise" wahr seien, als problematisch. Denn durch die Vermengung aktiver und passiver Zustände des erkennenden Subjekts verschwindet der Gedanke Spinozas von der Aktivität des Subjekts als ein Probierstein von Wahrheit und Adäquatheit. Aber dies ist wohl unvermeidlich, wenn man den Prozeß der Erlangung der Erkenntnis bei Spinoza als einen "Prozeß ohne Subjekt" deutet.

15. Noch einmal vom Wahren und Falschen: Zur Interpretation Moreaus

Pierre-François Moreau verteidigt in seiner gut geschriebenen Spinoza-Biographie (Paris 1975) an einigen entscheidenden Punkten ähnliche Ansichten wie die Althusser-Schule. Wie für diese oder für Negri, ist auch der Moreausche Spinoza ein "Ausgeschlossener" (l'Exclu), 138 der radikal Andere. Spinozas Antipoden sind nicht nur der "très illustre Mr. Descartes" oder Moralisten und Theologen; er entwirft einen ganzen "Raum", der von einem "Begriffsknoten" ausgehend bestimmt werden kann: es handelt sich um das System des (göttlichen oder menschlichen) Willens und der Finalität. 139 Bei Descartes bildete die Freiheit das Primäre im Menschen, seine "tiefste Schicht"; im Gegensatz dazu mußte man das Universum auf ein System der Maschinen reduzieren, damit sich die Herrlichkeit des Menschen umso besser abzeichnen würde. 140

Nicht so das Projekt Spinozas. Indem er die causas finales ablehnt, spricht er über den Menschen als über ein Naturwesen, das gleich allen anderen dem Gesetz der Notwendigkeit unterworfen ist. Die Freiheitsbestim-


138 Moreau 1975, S. 20 (dt. Ü. S. 19). Es gibt eine deutsche Übersetzung aus dem Jahre 1979. Hier und im folgenden wird erst nach dem französischen Original zitiert, dann in Klammern die entsprechende Stelle der deutschen Version wiedergegeben.

139 Ebd. S. 36 f. (35 f.).

140 Ebd. S. 42 f. (42 f.).


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mung Spinozas vereinigt Freiheit und Notwendigkeit, sie setzt sie nicht als Gegensätze: "Ea res libera dicitur, quae ex sola suae naturae necessitate existit & a se sola ad agendum determinatur"; ein notwendiges aber, "oder vielmehr gezwungenes" (vel potius coacta), ist ein Ding, das von einem anderen Dinge in fester und bestimmter Weise zu Existenz und Wirken bestimmt ist (Eth. I def. 7). Mit Recht hebt Moreau hervor, daß an die Stelle der unbegründeten Willensfreiheit bei Spinoza die "Wirkungskraft" (potentia agendi) 141 tritt, wodurch jegliches Einzelwesen Gottes Kraft ausdrückt.

Aber an dieser Stelle mündet die sonst sachkundige Moreausche Spinoza-Darstellung zugleich in den Hauptstrom der Positionen der Althusser-Schule. Das Spinozistische Verhältnis zwischen potentia agendi und potentia cogitandi schlägt bei Moreau um in eine Theorie der Wahrheit als eines "Kräfteverhältnisses". Diese Althussersche These formuliert Moreau an der Stelle, wo er die Problematik des Irrtums und der Wahrheit bei Spinoza zu analysieren beginnt. Er gelangt zu ganz ähnlichen Gedanken wie Macherey.

Nach Spinoza irrt die menschliche Seele (mens humana) nicht in einem bloß imaginativen Akt, sondern erst, wenn sie die von der Imagination gebildeten Bilder - z.B. einen Kentaur - auch für wirklich existierend hält (vgl. Eth. II.17 schol.). Ein wenig später gibt Spinoza ein Beispiel, das seinen Standpunkt beleuchtet: es ist dasselbe, das in dem oben zitierten Passus bei Macherey vorkam.

Wenn wir die Sonne sehen, sagt Spinoza, bilden wir uns ein (imaginamur), daß sie ungefähr 200 Fuß von uns entfernt sei. "Der Irrtum besteht nicht in dieser Imagination allein, sondern darin, daß während wir die Sonne uns so vorstellen (quod dum ipsum sic imaginamur), wir die wahre Entfernung der Sonne und die Ursache unserer Imagination nicht kennen. Denn wenn wir auch später erkennen, daß die Sonne über 600 Erddurchmesser von uns entfernt ist, so werden wir sie dessen ungeachtet als uns nahe seiend vorstellen; denn wir bilden uns die Sonne nicht deswegen als uns nahe seiend ein, weil wir ihre wahre Entfernung nicht kennen, sondern weil die Erregung unseres Körpers das Wesen der Sonne nur insofern einschließt, als unser Körper davon erregt wird (non enim solem adeo propinquum imaginamur, propterea quod veram ejus distantiam ignoramus, sed propterea, quod affectio nostri corporis essentiam solis involvit, quatenus corpus ad eodem afficitur, II.35 schol.)".


141 Ebd. S. 124 (108).


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Wenn Moreau dieses Beispiel Spinozas - es ist klassisch und kommt nicht nur bei Descartes (Medit. III und VI), sondern schon bei Aristoteles (De anima III:3) vor - kommentiert, sind seine Schlußfolgerungen ganz "althusserianisch":

"Der Irrtum tritt notwendigerweise ein. Man stimmt ihm nicht zu: er zwingt sich auf. Wir sehen die Sonne nicht freiwillig auf zweihundert Fuß Entfernung: die Struktur unseres Körpers ist derart, daß wir sie uns nicht anders vorstellen können". 142 Die Wahrheit kann diese Illusion nur dadurch überwinden, daß sie stärker ist als jene. Sie vertreibt die Illusion nicht gänzlich, sondern drängt sie nur zurück: "l'idée fausse n'est pas chassée, mais repoussée pat l'idée vraie". 143 Die Sachlage, die die Illusion produzierte, nämlich die Struktur unserer Sinnlichkeit, besteht weiterhin; sie hat nur den Vordergrund der Bühne dem mächtigeren Gegner überlassen, der astronomischen Wahrheit betreffs der wirklichen Sonnenentfernung.

Moreau deutet also die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wahrem und Falschem nach der althusserianischen "Kräfteverhältnis"-Theorie. Er bemerkt, daß zwischen der adäquaten Idee und den Bildern der Imagination ein "rapport des forces" 144 herrscht, der in letzter Instanz bestimmt, wer die Oberhand gewinnt.

Diese Lektüre setzt voraus, daß auch die Illusion eine gewisse "Daseinskraft" besitzt, d.h. auch in der Illusion muß es etwas Positives geben. Eine solche Annahme ist unabdingbar, will man philosophisch die These der "Materialität" bzw. der "Realität" der ideologischen Illusion begründen. Und gerade so sieht Moreau auch die Sache. Nach ihm folgt Spinoza nicht der "traditionellen" Erkenntnistheorie, die im Irrtum lediglich eine Abwesenheit der Wahrheit erblickt, einen Schatten, der, nachdem er "einmal entlarvt" ist, sich angesichts der Wahrheit auflösen und "ins Nichts zurückkehren muß, das er niemals hätte verlassen dürfen". 145

"Nichts davon bei Spinoza", schreibt Moreau. "Das Falsche ist weder ein Verlust, noch muß es verschwinden (ni déchéance, ni exigence de disparition pour le faux). Zwischen wahr und falsch gibt es zwar einen Bruch, aber die Notwendigkeit ist auf beiden Seiten gleich. Deshalb ist der Spinozismus auch die einzige Philosophie, die den Irrtum weder als Mangel noch als Sünde betrachtet, sondern vielmehr eine Theorie seiner Produktion formu-


142 Ebd. S. 84 (77).

143 Ebd. S. 84 (77); die Hervorhebung stammtvon Moreau.

144 Ebd. S. 98 (86).

145 Ebd. S. 82 (74).


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lieren kann: Wenn der Irrtum durch einen Prozeß produziert wird, der sich von dem zum Wahren führenden Prozeß unterscheidet, so deshalb, weil er nicht dessen bloße Kehrseite ist". 146

Damit kommt Moreau zum Schluß: "Das Terrain einer Theorie der Ideologie ist erschlossen". 147 Natürlich handelt es sich dabei um eine "nicht-traditionelle" Ideologietheorie, deren uns bekannte Kontur schon Althusser skizzierte. Nach Moreau ist das, was "Marx und Lenin bei Spinoza finden können", eine "materialistische Theorie der Ideologie", die sich auf die spinozistische "Kritik der Illusionen" gründet und viel weiter geht als die aufklärerische Kritik des 18. Jahrhunderts. 148 "Viel weiter", denn - wie schon gesagt - indem die Ideologietheorie der Althusserianer die Illusionen als eine materielle Kraft bestimmt, bricht sie in der Tat mit der Kritik an den "préjugés" im Sinne der aufklärerischen Tradition.

Fraglich ist allerdings, ob man (wie Moreau es will) in Spinoza einen Kritiker an der Aufklärung schon vor der eigentlichen Zeit der Aufklärung sehen kann. Betrachten wir also die Sache noch näher.

16. Wahrheit, Falschheit, Imagination

Wie bekannt, definierte Spinoza das Falsche als eine Abwesenheit (privatio) des Wissens. "Die Unwahrheit besteht in einem Mangel der Erkenntnis, welchen die nicht-adäquaten oder verstümmelten und verworrenen Ideen in ihrem Gefolge" (Falsitas consistit in cognitionis privatione, quam ideae inadaequatae, sive mutilatae, & confusae involvunt; Eth. II.35).

Auch Moreau nimmt diese bekannte Äußerung zu seinem Ausgangspunkt Aber wenn er dieselbe Proposition II.35 zitiert, leitet er sie mit folgendem Kommentar ein, der aus einer Althusserschen Interpretation von Spinozas Theorie der Imagination Argumente zu holen sucht:

"Andererseits verdankt das Bild (es handelt sich um eine Imago, d.h. ein Bild, das von der Einbildungskraft der Imaginatio, erzeugt wird - V.O.) seine Bedeutung nicht einer reinen Illusion, sondern seiner eigenen Produktion. Das Bild ist nicht die einfache Abwesenheit der Idee, ihr Fehlen oder die Erwartung ihrer Präsenz: auch das Bild wird durch die allgemeine Notwendigkeit bestimmt Deshalb verschwindet es auch nicht, wenn sich die


146 Ebd. S. 82 (74 f.).

147 Ebd. S. 85 (79).

148 Ebd. S. 183 (127 f.).


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Idee durchgesetzt hat - es gilt nur nicht mehr als adäquate Erkenntnis. Es ist ein Bild, weil es durch die Disposition des Körpers produziert wurde - und weiterhin produziert wird. Zum Irrtum wird es nur, wenn es in die Leere der Ideen tritt Entgegen der gesamten klassischen Tradition ist die Falschheit also kein einfacher Mangel an Erkenntnis: sie ist eine Präsenz, die eine verschobene Rolle spielt (La fausseté... n'est donc pas une simple privation de connaissance: elle est une présence qui a un rôle déplacé)". 149

Es sind an dieser Textstelle dieselben merkwürdigen, von der ursprünglichen Text-Vorlage aus gar nicht erklärbaren Textverschiebungen zu beobachten, die wir schon oben bei Macherey antrafen. Es ist, als ob Althussers Theorie eine eigentümliche Faszination ausgeübt hätte, die seine sonst begabten und intelligenten Schüler für Tatsachen blind gemacht hat Anfangs gibt Moreau die Ansichten Spinozas ganz korrekt wieder: es stimmt, daß in der Spinozistischen Wahrheitstheorie die Gebilde der Imagination beim Eintreten adäquater Ideen nicht verschwinden, sondern in ihrem Dasein beharren. Es stimmt auch, daß dies in der Notwendigkeit der Natur begründet liegt, in diesem Falle in der Beschaffenheit unserer eigenen Sinnlichkeit, die uns fortwährend "einbilden" läßt, daß die Sonne ganz nahe liegt, obwohl die Wissenschaft es anders lehrt.

Aber dann tritt im letzten oben zitierten Satz eine Wende in der Interpretation ein. Entgegen Spinozas ausdrücklicher Feststellung - "falsitas consist in cognitionis privatione" - schreibt Moreau nun, daß die Falschheit "kein einfacher Mangel an Erkenntnis ist"; vielmehr sei sie eine "Präsenz" (présence), nur in eine Nebenrolle "geschoben" (qui a un rôle déplacé). Wenn also die Falschheit, das Unwahre, "Präsenz" ist, dann kann sie nicht Privation sein. Eine bloße Privation kann keine Präsenz haben.

Es ist offenbar, daß Moreau hier ganz unbegründet die Imagination mit Falschheit gleichgesetzt hat. Es ist nicht anders bei Macherey, der in dem von uns schon erwähnten Passus auf dieselbe eigentümliche Weise Wahres und Falsches vermengte, indem er behauptete, daß die Imago der Sonne, die uns 200 Fuß entfernt zu sein scheint, eine "vraie idée sinon une idée vraie" sei. 150 Die Imago, d.h. das Bild der Imagination, sei also eine Idee! 151


149 Ebd. S. 85 (78).

150 Macherey 1979, S. 87.

151 An derselben Stelle verwechselt Macherey einige Zeilen später die Imago mit der Idee noch einmal: "L'image fausse du soleil est une idée vraie si nous la rapportons à notre propre existence corporelle" (ebd. S. 87; von mir hervorgehoben - V.O.).


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Wer macht sich nun der Inkonsequenz schuldig, die Althusser-Schüler oder Spinoza? Auf den ersten Blick könnte es scheinen, es sei Spinoza. Denn Moreau zitiert, um seine Ansichten zu verteidigen, die Demonstration zu Proposition II.35, wo Spinoza schreibt:

"Es gibt nichts Positives in den Ideen, das das Wirkliche des Falschen bedingt (quod falsitatis formam constituat); [...] aber die Unwahrheit kann nicht in einem unbedingten Mangel bestehen (denn man sagt nur von den Seelen, nicht von den Körpern, daß sie irren oder sich täuschen); aber auch nicht in einer absoluten Unwissenheit; denn Nichtwissen und Irren sind verschieden. Die Falschheit besteht deshalb in einem Mangel der Kenntnis, welchen das unzureichende Wissen der Dinge oder die unzureichenden oder verworrenen Ideen derselben enthalten. W. z.B. w."

Es scheint also, sowohl Moreau als auch Macherey hätten Spinoza richtig interpretiert. Das würde allerdings bedeuten, daß Spinoza trivialer Weise in Widerspruch zu sich geraten ist. Hatte er doch zuerst eingeschärft, daß das Falsche aus nichts Positivem besteht, und nun sollte er in der Demonstration zu II.35 präzisieren, daß die Unwahrheit auch nicht "in absoluta privatione" besteht. Gerade an diese Präzisierung knüpft Moreau an. Er sieht darin einen Beweis dafür, daß auch die Illusion (die er stillschweigend mit Imagination gleichgesetzt hat) etwas "Eigenes" besitzt, irgendein Vermögen zum Dasein, kraft dessen sie als eine der Wahrheit ähnliche "materielle Kraft" hervortreten kann.

Lesen wir doch den Text noch einmal. Wenn Spinoza in seiner Demonstration zu II.35 sagt, daß die Unwahrheit nicht aus absoluter Privation bestehen kann, fügt er unmittelbar hinzu: "denn man sagt nur von den Seelen, nicht von den Körpern, daß sie irren oder sich täuschen" (Mentes enim, non Corpora errare, nec falli dicuntur). Der Zusatz zeigt sofort, was Spinoza in der Tat meinte. Die Privation oder der Mangel, der in der Unwahrheit involviert ist, kann nicht absolut in dem Sinne sein, daß er zugleich die Privation des Denkens (der Idee) wie auch die des ausgedehnten Körpers wäre: der Irrtum ist ausschließlich Privation des Denkens. Darum ist er keine "absolute" Privation. Der Gegenstand oder Körper ist ja (außerhalb des Bewußtseins) das, was er ist, unabhängig davon, ob wir uns von ihm eine wahre oder eine falsche Idee gebildet haben, daß unsere Erkenntnis mangelhaft ist, kommt nicht daher, daß auch der Erkenntnisgegenstand mangelhaft wäre - und auch nicht daher, daß der Bau unserer Sinnlichkeit (unsere Imagination) "an sich" betrachtet Privationen erzeugen würde, nur weil un-


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ser Körper auf eine seiner eigenen Natur entsprechende Weise funktioniert, d.h. seiner "virtus" folgt

Was sodann die Konstatierung Spinozas betrifft, daß die Unwahrheit "auch nicht in einer absoluten Unwissenheit" (neque etiam in absoluta ignorantia) bestehen kann, weil "Nichtwissen und Irren verschieden sind" (diversa enim sunt, ignorare, & errare), kann auch dieses schwerlich dahingehend interpretiert werden, daß das Irren etwas Positives wäre (z.B. im Vergleich zum Nichtwissen). Was Spinoza nämlich damit meint, wird deutlich im Lichte des Scholion zu Proposition II.49, wo er abermals die Ursachen des Irrtums erläutert. Er schreibt:

"Sodann bestreite ich entschieden, daß wir einer gleichen Kraft des Denkens bedürfen, um das Wahre als wahr zu bejahen, als das Falsche als wahr zu bejahen. Denn das Verhältnis zwischen diesen beiden Bejahungen ist - hinsichtlich der Seele - wie das zwischen Sein und Nichtsein (hae duae affirmationes, si mentem spectes, se habent ad invicem, ut ens ad non-ens)."

Daraus erhellen zwei Sachen: Erstens, Spinoza wiederholt den uns hinlänglich bekannten Standpunkt, daß das Falsche Nichtseiendes darstellt. Zweitens aber gibt Spinoza zu, daß das Irren ein Bejahen (affirmatio) des Falschen als von etwas Wahrem ist, mit anderen Worten, daß auch das Irren eine Operation der Seele ist. Wenn dem so ist, ist das Irren natürlich etwas anderes als bloßes Nichtwissen, das keine mentalen Operationen impliziert: man kann auch einen Stein "nichtwissend" nennen.

Was das Verhältnis zwischen Imagination und Irrtum betrifft, hat Spinoza dies sehr deutlich bestimmt. "Hier bitte ich", schreibt er z.B. im Scholion zu Proposition II.17, "um mit der Erklärung des Irrtums zu beginnen, zu bemerken, daß die Imaginationen der Seele, an sich betrachtet, keinen Irrtum enthalten (Mentis imaginationes, in se spectatas, nihil erroris continere); oder daß die Seele dadurch, daß sie sich etwas bildlich darstellt, noch nicht irrt (Mentem ex eo, quod imaginatur, non errare), sondern nur insofern, daß ihr die Idee fehlt, welche das Dasein jener Dinge ausschließt, die die Seele sich als gegenwärtig bildlich darstellt". Wenn sich die menschliche Seele zum Beispiel mythologische Wesen als gegenwärtig einbildet, irrt sie nach Spinoza nicht, wenn sie nur zu diesen Produkten der Imagination das Bewußtsein (die Idee) darüber hinzufügt, daß sie in der Wirklichkeit nicht existieren. 152


132 Es muß wohl Michèle Bertrand und Filippo Mignini zugestimmt werden, die in Spinozas Lehre von der Imagination die Grundlage für eine "ästhetische Dimension" seiner ganzen Philosophie erblicken (vgl. Bertrand 1983, S. 179). Demnach


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Wie wir also sehen, ist der Standpunkt Spinozas eindeutig: die Imagination ist an sich nicht Irrtum und enthält nichts Negatives, insoweit sie im Rahmen ihrer eigenen Natur tätig ist. Der Irrtum entsteht erst, wenn man an die Bilder der Imagination Ideen knüpft, die der wirklichen Sachlage nicht entsprechen. 153

Eben deshalb unterstrich Spinoza sehr stark die Notwendigkeit, die Produkte der Imagination und die Ideen des Intellekts deutlich voneinander abzugrenzen: "Ich [...] erinnere die Leser daran, genau zu unterscheiden zwischen der Idee oder dem Begriff des Geistes und zwischen den Bildern der Dinge, die wir uns einbilden (Lectores ... moneo, ut accurate distinguant inter ideam, sive Mentis conceptum, & inter imagines rerum, quas imaginamur)". Und weiter: "Man glaubt nämlich, daß die Ideen aus Bildern bestehen, welche in uns durch das Begegnen der Körper entstehen [...] Diese Vorurteile wird indes derjenige leicht ablegen können, welcher die Natur des Denkens beachtet, denn das Denken involviert keineswegs den Begriff der Ausdehnung; und dann wird er klar einsehen, daß die Idee - als ein Modus des Denkens - weder aus dem Bild irgendeines Dinges, noch aus den Worten besteht Denn das Wesen der Worte und Bilder besteht in bloßen körperlichen Bewegungen, die den Begriff des Denkens keineswegs beinhalten" (Eth. II.49 schol.). Für eine ähnliche scharfe Unterscheidung zwischen Sinnlichkeit und höheren Formen der Erkenntnis plädierte bekanntlich schon Aristoteles; Spinozas Besonderheit ist es, daß er dieses Prinzip in seiner Kritik an Descartes anwendet, wie wir bald sehen werden. 154

Wir kommen also zu dem Schluß, daß die Althusser-Schüler die Wahrheitstheorie Spinozas fehlerhaft deuten. Moreau hält die Imagination als solche für positiv (das ist richtig), gelangt aber dann zur Überzeugung, daß die Imagination auch das Falsche "trägt". Ein ähnliches Verwechseln der Ideen und Produkte der Imagination liegt auch der Machereyschen Ver-


wäre die "Wahrheit" solcher imaginativer Bilder wie ein geflügeltes Pferd (um Spinozas eigenes Beispiel in Eth. II.49 schol., anzuführen) analog der künstlerischen (ästhetischen) Wahrheit, von der schon Aristoteles sagte, daß sie keineswegs den Anspruch erhebt, wirklich Geschehenes darzustellen. Auch dies entspricht gut dem erkenntnistheoretischen "Aristotelismus" Spinozas.

153 So irrte Aeneas nicht, als er die Bilder des von Vulkan geschmiedeten Schildes bewunderte, ohne deren Sinn zu verstehen:

"...rerumque ignarus imagine gaudet
Attollens humero famamque et fata nepotum" (Aen. VIII: 730-731).

154 Eine Übersicht bietet Modrak 1987, besonders S. 115 ff., S. 120 f.


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mengung des Wahren und Falschen bei Spinoza zugrunde. In dem schon oben zitierten Passus, wo Macherey sich mit dem Beispiel Spinozas, der sinnlichen und intellektuellen Sonne, beschäftigt, schreibt er einerseits ganz richtig, daß die "répresentation imaginaire" der Sonne tatsächlich "la disposition de notre corps" ausdrückt; aber einige Zeilen später verwechselt er dieses imaginative Bild mit einer Idee - entgegen der ausdrücklichen Warnung Spinozas! - indem er schreibt: "Mais cela ne signifie pas qu'elle est [...] une idée sans objet [...] En effet, elle est une idée [...] L'image fausse du soleil est une idée vraie si nous la rapportons à notre propre existence corporelle". 155 Aus einem Bild der Imagination ist plötzlich eine Idee geworden.

Was Moreau betrifft, ist sein Standpunkt derselbe: "auch die falschen Ideen sind auf ihre Weise wahr". Moreau drückt dies so aus, daß auch das Nicht-Wahre "Präsenz" habe, sei sie dann auch "verschoben" (déplacé). Das Proton pseudos dieses Kunststückes liegt darin, daß die Positivität der Imagination mit den falschen Ideen in Zusammenhang gebracht wird, d.h. die Imagination wird als "Träger" der Unwahrheit hingestellt.

Nicht nur die Ideologietheorie Althusserscher Provenienz - die Lehre von der "Realität" der Illusion - beruht auf einer derartigen Deutung. Die Neubewertung der Rolle der Aisthesis bildet überhaupt den springenden Punkt, wo das Spätmoderne vom klassischen Modernen zu divergieren beginnt. Das Verfahrensmuster hat hier Nietzsche vorgegeben. Denn es ist Alexander Nehamas zuzustimmen, wenn er schreibt: "Nietzsche, so behaupte ich, betrachtet die Welt generell, als sei sie eine Art Kunstwerk". 156 Dabei wird aber die Kunst als Produktion der Illusionen gedacht.

Indes soll diese Problematik hier nicht genauer analysiert werden. Doch bezieht sich die Frage nach der "Realität" des Nicht-Wahren auf einige Aporien, die schon in der Philosophie der klassischen Moderne, nämlich bei Descartes zu finden sind. Wenn Spinoza so stark auf die Nicht-Realität des Unwahren insistierte, daß er den traditionellen aristotelischen Standpunkt zu dieser Frage noch erheblich radikalisierte, kann dies als eine verdeckte Polemik gegen einige von Descartes eingenommene Positionen angesehen werden.


155 Macherey 1979, S. 87 f.

156 Nehamas 1991, S. 17. Der Ästhetizismus Nietzsches besteht nach Nehamas genauer darin, daß die Welt analog zum literarischen Text interpretiert, d.h. "philologisch betrachtet" wird (ebd. S. 17 f.).


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Auch hier scheinen die Althusserianer, trotz ihrer ausgesprochenen Vorhebe für Spinoza, faktisch gewisse cartesianische Denkmuster zu reproduzieren. Wie wir uns erinnern, fiel Althusser schon mit seiner strikten Unterscheidung zwischen "Real-" und "Erkenntnisobjekten" in den Dualismus des Descartes zurück, obwohl ihm der Monismus Spinozas wie auf einem Präsentierteller zu Gebote stand.

17. "Tanquam rerum imagines": Die Aporie von Descartes

In seinen Meditationes konstatiert Descartes an einer Stelle, wo er sich mit dem Charakter der Ideen befaßt, sie seien "wie Bilder der Dinge" (tanquam rerum imagines; Med. III). Und er fährt dann fort Insofern man "die Ideen nur als solche betrachtet und sie auf nichts anderes bezieht, können sie eigentlich nicht falsch sein (quod ad ideas attinet, si solae in se spectentur, nec ad aliud quid illas referam, falsae proprie esse non possunt); wenn ich mir nämlich eine Ziege oder eine Chimäre einbilde, ist es nicht weniger wahr, daß ich mir die eine wie die andere einbilde".

Wie wir sehen, hat die Position Descartes' viel Ähnlichkeit mit der Spinozas, nach dem die Bilder der Imagination "für sich genommen" keinen Irrtum enthalten. Aber Spinoza macht Descartes gegenüber einen wesentlichen Einwand: man darf die Idee nicht als "etwas Stummes, gleich dem Gemälde auf der Tafel" betrachten (II.43 schol.). Vielmehr ist die Idee ein "Begriff der Seele" (Mentis conceptus), der genau von den von der Imagination erzeugten Bildern der Gegenstände unterschieden werden muß (II.49 schol.). Wir kommen darauf sofort zurück; sehen wir zuerst, wie sich der Gedankengang Descartes' weiterspinnt.

Descartes definiert die "Idee" oft als ein materielles Bild. Beispielsweise wird in der Dioptrik der Entstehungsprozeß folgendermassen beschrieben:

1) Die Seele empfindet.

2) Die Seele erhält ihre Empfindungen über die äußere Welt vermittels der Nerven (das Setzen eines Vermittlers also, als erster Schritt des Versuchs, den Dualismus zu überbrücken).

3) Die "Lebensgeister" (spiritus animales) benutzen die Nervenfasern als Kanäle, wo sie "wie Wind oder eine sehr subtile Luft" sich bewegen und die Verbindung zwischen Körperwelt und Seele herstellen (womit ein zweiter Vermittler gesetzt wird, um diesmal den Dualismus endgültig zu überbrücken).


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4) Die Seele hat Eindrücke von der äußeren Welt. Allerdings unterstreicht Descartes, daß die Seele keine direkten, von den Dingen ins Gehirn projizierten Bilder empfindet, sondern nur etwas, das den Dingen "grob ähnlich" ist. Und er fügt dem überdies hinzu: "multa praeter imagines esse, quae cogitationes excitant" - wie z.B. Wörter und Zeichen (Dioptr. Cap. IV, §§1-6).

So bleibt das Fazit der ganzen Darstellung, daß die Ideen, eben dank ihres physiologischen Entstehungsprozesses, in analoger Weise mit den Bildern geformt sind. Ganz deutlich bringt Descartes die Ideen im Traité de l'Homme in die Nähe der Bilder, wo er sagt, daß die "Lebensgeister", indem sie immer wieder auf die Zirbeldrüse in der Mitte des Gehirns stiessen, in diese eine Figur zeichnen würden, die eben die Idee ist. 157

Diese Ambivalenz Descartes' in der Bestimmung dessen, was unter einer Idee zu verstehen sei, führt zu interessanten Inkonsequenzen. In seiner dritten Meditation insistiert Descartes erst stark darauf, daß die "Realität", die man in den Ideen sieht, nicht nur "objective" (im scholastischen Sinne des Terminus, also "repräsentativ") sein kann. Dieselbe Realität müsse auch formaliter in den Ursachen vorkommen, die diese Ideen hervorgebracht haben. Und dann konstatiert er plötzlich, als ob ihn das vorher Gesagte nichts anginge:

"Wenn ich auch schon oben bemerkte, daß eigentliche oder formale Falschheit sich nur in den Urteilen finden kann, gibt es dennoch in den Ideen eine gewisse materielle Falschheit [Hervorhebung von V.O.], nämlich dann, wenn sie ein Nicht-Ding als ein Ding repräsentieren (Quamvis enim falsitatem propre dictam, sive formalem, nonnisi in judiciis posset reperiri paulo ante notaverim, est tamen profecto quaedam alia falsitas materialis in ideis, cum non rem tanquam rem repraesentat)".

Als Beispiele solcher "materiell falscher" Ideen nennt Descartes die Ideen der Kälte und Wärme, die "so wenig klar und deutlich sind, daß ich mit ihrer Hilfe nicht aufspüren kann, ob die Kälte nur Abwesenheit (privatio) der Wärme ist, oder die Wärme nur Abwesenheit der Kälte; auch


157 Descartes 1897 pp. 174-179. - Wieder etwas abweichend beschreibt Descartes den Prozeß in Passiones animae (§ 34), was doch den Kern der Sache nicht ändert, denn schon im darauf folgenden Paragraphen gibt er als Beispiel "irgendein Tier", von dem die Augen zwei Bilder (imagines) formen; daraus entstehe in der Zirbeldrüse ein vereinigtes Bild, das dann "unmittelbar auf die Seele einwirkt und ihr das Bild dieses Tieres zeigt" (ostendit ipsi figuram hujus animalis; Pass. An.§ 35). Vgl. dazu auch Gueroult a.a.O., S. 496, 570 f.


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nicht, ob die eine oder andere eine reale Qualität ist, oder keine. Und weil die Ideen wie Bilder sind [sie! – V.O.], kann unter ihnen keine sein, die uns nicht etwas zu repräsentieren scheint. Wenn es also richtig ist zu sagen, daß die Kalte nichts anderes sei als Abwesenheit der Warme, so kann man mit vollem Recht die Idee falsch nennen, die sie als etwas Reales und Positives repräsentiert".

Margaret Dauler Wilson, die diese Stellen bei Descartes eingehend analysiert hat, bemerkt, daß die These von den Ideen "tanquam rerum imagines" die "kognitive Erreichbarkeit" der Dinge zu begründen sucht. 158 daß die Ideen "wie Bilder" sind, weist auf ihren repräsentativen Charakter hin. Das Vorhandensein des Repräsentationsverhältnisses erzeugt automatisch die Möglichkeit des Irrtums. So lange man die Denkinhalte "als solche" betrachtet, enthalten sie keinen Irrtum. Erst nachdem ich "schließe, daß die Ideen in mir mit den außerhalb mir hegenden Dingen gleich oder konform sind", wie Descartes schreibt, ist das Irren überhaupt möglich. "Allgemein gesagt, der repräsentative Charakter der Ideen hat einen Bezug zum fehlerhaften Schließen" - so Wilson. 159

Descartes ringt hier im Grunde mit demselben Problem wie Kant anderthalb Jahrhunderte später: es geht um die Vereinigung des rationalistischen und empiristischen Prinzips. Kant macht allerdings schon schärfere begriffliche Unterscheidungen. Er sagt zuerst, daß "Wahrheit und Schein ... nicht im Gegenstande [...], sondern im Urtheile über denselben" sind, wiederholt also das alte aristotelische Prinzip Sodann bemerkt er, daß es in den Sinnen "gar kein Urteil" gibt; der Irrtum wird "nur durch den unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit auf den Verstand bewirkt" (KdrV B 350).

Das Unglück mit der Descartesschen Bestimmung der Idee liegt eben in diesem "unbemerkten Einfluß der Sinnlichkeit". Er bleibt unbemerkt, weil Descartes im Gegensatz zu Kant noch nicht den Stoff und die Form der Bewußtseinszustande voneinander unterschied. Das Denken an sich ist noch eine ganz formale Operation, lehrte Kant: zur Erkenntnis bedarf es noch des sinnlichen "Stoffes", der uns in der Anschauung gegeben ist (vgl. KdrV B


158 Wilson, Descartes, London & Boston 1978, S 182 "When Descartes says that ideas are 'tanquam rerum imagines', I think that he is saying more than that thoughts have 'objects', according to which they are classified [...] He means also that ideas are received by the mind as if exhibiting to it various things - or as if making things cognitively accessible".

159 Ebd. S. 103.


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146). Spinoza ist hier, konnte man sagen, viel "kantianischer" 160 als Descartes: er schärft ein, daß "die Ideen, als Ideen" Denkoperationen sind, keine sinnlichen Bilder (Eth. II.48 schol.). Er unterscheidet also Denken und Sinnlichkeit sehr deutlich.

Doch ist das Festhalten an dem Prinzip der Repräsentation - trotz der Schwierigkeiten, die dieses für seine These von der Realdistinktion zwischen Ausdehnung und Denken mit sich brachte - ein realistischer, ja man konnte sogar sagen ein materialistischer Zug bei Descartes Weist doch dieses Prinzip darauf hin, daß es etwas außerhalb des erkennenden Subjekts gibt, das repräsentiert wird. Auch bei Kant war es nicht anders: sein Insistieren, daß es Dinge an sich gibt, die uns in den Erscheinungen gegeben sind, druckt eine materialistische Tendenz aus.

Die Behauptung, daß der Irrtum oder die Falschheit einen "materiellen" Charakter habe, gründet bei Descartes auf seiner Ansicht, daß die Ideen aus repräsentativen Bildern bestehen, die den äußeren Gegenständen zu entsprechen Schemen - auch dann, wenn es solche Gegenstande nicht gibt. "Mit anderen Worten", faßt Wilson zusammen, "die Tatsache, daß die Idee einen repräsentativen Charakter hat - daß sie die Seele darstellt, als ob sie ein Gegenstand oder kognitiv erreichbar wäre - fuhrt uns fälschlicherweise dazu, anzunehmen, daß sie etwas Reales als kognitiv erreichbar macht". 161

Die unvorsichtige Formulierung Descartes', es könne in den Ideen eine "materielle Falschheit" geben, bildete den Anlaß zur Kontroverse mit Antoine Arnauld. Er machte in den Objectiones quartae (publiziert als Beilage zu den Meditationes) auf problematische Folgen dieser Konzeption aufmerksam.

Die Frage Arnaulds war im Grunde dieselbe wie die Spinozas. Wie kann eine nicht-existente Entität, also eine bloße Privation (wie z.B. die Kalte als nur Abwesenheit der Warme), in der Form einer positiven Idee repräsentiert werden? Descartes konnte nur antworten, die materielle Falschheit der Idee bedeute lediglich, daß sie sozusagen das "Material" zur Herausbildung einer


160 Das meinen wir nicht im Sinne einer neukantianischen Interpretation, die den Realismus eines bewußtseinsunabhängigen "Dinges an sich" als unbequem wegzuraumen sucht.

161 Wilson, a.a.O., S. 109. - Um den Vergleich mit Kant noch weiter fortzusetzen, kann man in semer Terminologie den Fehler Descartes' folgendermassen charakterisieren daraus, daß etwas in der (sinnlichen) Anschauung gegeben ist, wurde der fragwürdige Schluß gezogen, es existiere auch wirklich Die Anschauung solle also auch nicht existenten Wesen Wirklichkeit "verleihen".


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im strengen Sinn des Wortes falschen, d.h. formell falschen Behauptung liefert. Dieses Material der Falschheit wiederum stammt aus dem Imago-Charakter der Idee. 162

Aber diese Präzisierung rettet Descartes nicht, sondern stellt ihn, wie Wilson konstatiert, noch größeren Schwierigkeiten gegenüber:

"Zu bemerken ist: die Ansicht, daß die Wahrnehmungen, vom objektiven Standpunkt her gesehen, 'vom Nichts verursacht sind', hat eine interessante und überraschende Implikation: die Wahrnehmungen müssen objektiver Realität entbehren, obwohl sie repräsentativen Charakter haben! [...] Diese Kluft zwischen repräsentativem Charakter einer Idee und ihrer objektiven Realität ist, worauf ich insistieren will, kein Beitrag, sondern ein Hindernis zur Erreichung des letzten Ziels der Dritten Meditation, daß Gottes Existenz aus der Idee Gottes folgt, zu beweisen". 163

Wenn nämlich der Repräsentationsinhalt der Ideen "materiell falsch" sein kann, mit welchem Recht kann Descartes dann behaupten, daß die Idee Gottes, die in der meditierenden Seele unendliche Realität besitzt, damit ein ebenso mächtiges Objekt außerhalb des Denkens repräsentieren würde?

Die Kritik Arnaulds veranlasste dann auch Descartes, sich von der in der III. Meditation aufgeworfenen "materiellen Falschheits"‑These zu distanzieren. Als er Arnauld antwortet, "scheint er einfach die Ansicht aufzugeben, daß der repräsentative Charakter der Ideen der Sinnlichkeit (der sicherlich 'etwas Positives' ist) die Quelle unserer irrtümlichen Vorstellungen von den realen Qualitäten der Gegenstände ist. Nun, in den Responsiones quartae wird gesagt, daß die Ideen materiell falsch sind, nur weil sie dunkel sind - nicht weil sie nullas res tanquam res repräsentieren". 164

Nach Wilson handelt es sich um "eine bedeutende Abweichung" von der ursprünglichen Doktrin der dritten Meditation, weil die Falschheit nun nicht mehr aus der Repräsentation nicht-existenter Dinge, "als ob" sie existent seien, abgeleitet wird. Vielleicht könnte man sagen, daß Descartes aufgrund des Druckes von Seiten Arnaulds den Positionen Spinozas nähergerückt ist.


162 Wilson, ebd. S. 103.

163 Ebd. S. 111.

164 Ebd. S. 115. Arnauld arbeitete folgende Aporie heraus: Wäre die Idee der Kälte eine Privation, und dennoch "in intellectu objective" enthalten, müßte sie positiv sein, und dann kann sie nicht Idee der Kälte sein. "Recte", antwortet Descartes, "sed propter hoc tantum illam [sc. frigoris ideam - V.O.] materialiter falsam appello, quod cum sit obscura & confusa". Eben diese Dunkelheit mache das Urteilen über den Gegenstand der Idee nicht möglich (Objectiones quartae, Responsiones quartae).


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Spinoza hielt ja die "Verworrenheit" und "Fragmentarität" der Ideen für die Quelle ihrer Inadäquatheit.

Dennoch bleibt Descartes auch hier auf halbem Weg stehen und überschreitet die Schwelle zum Spinozismus nicht, weil er trotz allem fortwährend daran festhält, daß die Ideen "wie Bilder der Dinge" sind und seinen Ideen-Begriff keiner konsequenten Revidierung unterzieht.

Die philosophisch kaum folgerichtige These von der materiellen Falschheit der Ideen kann nur überwunden werden, wenn man - wie Spinoza - die Imagination (die das "Material" liefert) und die Idee (die das Urteil liefert) voneinander deutlich trennt. Die Frage nach der Unwahrheit bzw. Falschheit gehört dann ins Gebiet des Gebrauches von den Ideen (d.h. des Urteilens) und sie wird nicht im Rahmen der Imagination gestellt; das "Material", das die Imagination gibt, bleibt ("für sich" betrachtet) immer positiv. So ist das Bild eines geflügelten Pferdes, das wir in unserer Imagination bejahen (Eth. II.49 schol.), für sich genommen immer etwas Positives; falsch wird es erst, wenn wir daraus z.B. das Urteil ableiten wollen, daß Pegasus wirklich existiere.

An derselben Stelle polemisiert Spinoza gegen den Ideen-Begriff von Descartes, ohne dessen Namen zu nennen: "Man glaubt nämlich, daß die Ideen in Bildern bestehen, welche sich in uns durch die Begegnung der Körper bilden, und ist überzeugt, daß jene Ideen der Dinge, von denen man sich kein ähnliches Bild herstellen kann, keine Ideen seien, sondern nur Einbildungen (sed tantum figmenta), die man sich aus freier Willkür macht (ex libero voluntatis arbitrio). Man betrachtet also die Ideen wie stumme Bilder auf einer Tafel, und derart voreingenommen, bemerkt man nicht, daß die Idee als solche Affirmation oder Negation in sich enthält" (II.49 schol.).

18. Von der schönen Lüge

Manche haben die Versicherungen Althussers für bare Münze genommen, er sei mit seinen Schülern ein Spinozist späterer Zeiten gewesen. "Nearly all the novel concepts and accents of Althusser's Marxism, apart from those imported from contemporary disciplines, were in fact directly drawn from Spinoza", meint beispielsweise Perry Anderson. 165 Als spinozistische Elemente im Oeuvre Althussers zählt Anderson u.a. die folgenden auf: Monis-


165 Anderson 1976, S. 64.


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mus, Wahrheitstheorie und die Lehre von der Unausweichlichkeit der Illusionen.

Doch ergibt die Prüfung von Althussers Spinoza-Lektüre ein ganz gegensätzliches Resultat: Althusser ist nicht im mindesten ein "wirklicher" Spinozist gewesen. Vielmehr reproduziert er gewisse cartesianische Positionen. Statt einen Monismus haben wir den Dualismus von Erkenntnis- und Realobjekten; statt spinozistischer Wahrheitstheorie entweder eine Doktrin von der "Präsenz" der Falschheit oder eine andere von der Gegensätzlichkeit von Adäquation und Korrespondenz. Und die Behauptung Descartes' über die "materielle Falschheit" der Ideen wird in der Ideologietheorie der Althusserianer aufs genaueste wiederholt, indem die Ideologien als "notwendige Illusionen" durch die materielle Kraft definiert werden.

Beim letzten Punkt lohnt es sich noch kurz zu verweilen. Am Anfang des zweiten Kapitels des Tractatus theologico-politicus äußert Spinoza Gedanken, die einen direkten Bezug zu einer möglichen Theorie der Ideologie haben können, zumal er hier nach der Stichhaltigkeit der religiösen Vorstellungen der alten Hebräer fragt. Er kommentiert die Prophetie wie folgt:

"Da die menschliche Imagination (simplex imaginatio) ihrer Natur nach keine Gewissheit über die Wahrheit ihrer Bilder enthält, wie es sie bei jeder klaren und deutlichen Idee gibt, sondern der Imagination, wenn man ihren Bildern Glauben schenken soll, noch etwas hinzugefügt werden muß, nämlich die vernünftige Überlegung (ratiocinatio), so folgt daraus, daß die Weissagung an sich keine Gewissheit von ihrer Wahrheit geben kann, weil sie, wie erwähnt, von der bloßen Imagination ausgeht" (G III, S. 30).

Spinoza sagt hier ausdrücklich, daß aus Imagination allein keine gewisse Wahrheit abzuleiten ist. Zur Gewissheit ist erforderlich, daß man dem, was die Imagination liefert, eine "vernünftige Überlegung" "hinzufügt". Es ist möglich, daß die Propheten Wahres weisgesagt haben, aber dies läßt sich nur durch die Bildung adäquater Ideen feststellen, die denselben Gegenstand betrachten als die Imagination und die erst Gewissheit über die Sache gewähren können, daß die Gebilde der Imagination mit adäquaten Ideen "geprüft" werden müssen, hat kaum etwas mit der althusserianischen Ideologietheorie gemein, in der die Falschheit eine eigentümliche Transsubstantiation in die Wahrheit erlebt.

Doch handelt es sich bei der Spinoza-Deutung der Althusser-Schule, die wir hier betrachtet haben, nicht nur um eine gewaltsame Reduzierung der Ansichten Spinozas zu einigen Descartesschen Positionen. Descartes' Lehre


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von der "materiellen Falschheit" bildet einen blinden Punkt, wo der klassische Rationalismus versagt (ein anderer ist die Doktrin des freien Willens).

Diese "blinden Punkte" sind zugleich Keime einer möglichen künftigen Gegenaufklärung innerhalb der Moderne selbt. Auf Spinoza angewandt, expandieren sie zu einem ganz neuen Interpretationsmuster. Aus Spinoza wird, neben einem Hegel-Kritiker vor Hegel, auch eine Art Vor-Nietzsche gemacht: in ihm erblickt man einen Kritiker der Aufklärung, und vor allem des aufklärerischen Programms der Beseitigung der Vorurteile. Die Lehre der Althusser-Schule über die "Realität des Imaginären" kündigt einen Bruch mit dieser Tradition an. Die Vorurteile erweisen sich nunmehr als Träger einer eigenen Positivität, deren Bewertung mit Kriterien des Wahren und Nicht-Wahren unstatthaft erscheint. Obgleich das marxistische Gewand des Althusserianismus manches vortäuschen mag, ist diese Kehrtwendung kein Novum: die notorische 166 Vaterfigur ist Nietzsche, der Anwalt der ästhetischen Illusion.

Allerdings ist dieser nietzscheanische Zug bei Antonio Negri stärker ausgeprägt als bei den Vertretern der eigentlichen Althusser-Schule. Da Negri dieselben Positionen weiter entwickelt, lohnt es sich, ihn noch einmal zu betrachten.

Negris Aufmerksamkeit bei der Lektüre von Spinozas Tractatus theologico-politicus ist auf die "konstitutive" Rolle der Imagination gelenkt. Nach ihm handelt es sich bei Spinoza um ein "in phänomenologische Richtung orientiertes Untersuchungsthema: um das Niveau der von der Imagination konstituierten Wirklichkeit festzuhalten". 167 Die Analyse Spinozas schreite dann "von der Illusion zur Konstitution", wobei Spinoza zuerst die Imagination "als konstitutive Kraft von Irrtum und Illusion" behandelt. Nach Negri heißt dies alles, "daß das Problem in der besonderen Natur der Wirkungen prophetischer Imagination besteht, im Paradoxon des wesenhaften Nichts, das historische Gewissheit und historisches Sein schafft". 168 Damit


166 Die marxistische Kritik hat natürlich, sowohl von "westlich-marxistischer" als auch von leninistischer Seite, den Nietzsche-Bezug Althussers bemerkt (vgl. Anderson 1976, S. 66; Gedö 1983, S. 136). Es scheint jedoch, daß der innere Zusammenhang von Voluntarismus, Nietzscheanertum und ultralinker Politik noch nicht genügend aufgeklärt ist.

167 Negri a.a.O., S. 102.

168 Ebd. S. 114.


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stelle sich "auf moderne Weise das Problem des 'falschen Bewußtseins'", wo "die Illusion als kraftvolle Tätigkeit" erscheine. 169

Die positive Leistung der Illusion war - nach Negri - daß die an sich illusionäre Vorstellung einer göttlichen Sanktion dennoch die Gesetze und eine geregelte Gesellschaft erzeugen konnte. 170 Der positive Inhalt der Religion ist der Gehorsam, und so hätte die anfänglich falsche Imagination ins Positive umgeschlagen. 171

Eine unzulässige "Postmodernisierung" der Ansichten Spinozas im Geiste Nietzsches und Bogdanows? Ohne Zweifel. Doch handelt es sich zugleich um eine "Antiquisierung", denn Negri stilisiert Spinoza auch zu einem Anhänger von Platons Staats-Apologie. Lesen wir aus dem dritten Buch des Staates:

"Wenn es überhaupt zulässig ist, zu lügen, so sei dies den Herrschern des Staates erlaubt. Sie dürfen das tun wegen der Feinde oder wegen der eigenen Staatsbürger, dem Staate zum Nutzen..." (Politeia III, 3g9 b - c). Eine solche, dem Staate förderliche Lüge nennt Platon an einer anderen Stelle "schöne Lüge" (to kalòn pseûdos; Politeia III, 414 c).

Wohlgemerkt: anders als der spätmoderne Nietzsche, für den die ganze Welt dem Prinzip des ästhetischen Scheins unterworfen war, hält der vormoderne Platon auch die "schönen Lügen" für Ausnahmen, deren man sich erst in Notfällen und - auch dann erst unter vielen Vorwänden - bedienen darf. Sie heben nicht den wahrhaften Weltzustand auf. Wie dem nun sei, es ist bizarr, Spinoza und Platon in dieser Hinsicht überhaupt anzunähern. Spinoza ist hier ein entschiedener Antiplatoniker. Sein Ideal war eine Gemeinschaft der Weisen, eine rationale Gemeinschaft, wo alle Mitglieder die Adäquatheit ihres Denkens maximiert haben. 172 Entscheidend dabei ist, daß die Rationalität bei Spinoza aus den adäquaten Ideen abgeleitet wird. Die Imagination spielt also primär keine "konstitutive Rolle" in dem Sinne, wie sie ihr Negri zuschreibt. Wären nämlich, wie Spinoza sagt, die Menschen wirklich frei geboren, hätten sie keine inadäquaten Ideen (Eth. IV.68). Der


169 Ebd. S. 114.

170 Ebd. S. 116.

171 Ebd. S. 125.

172 Nicht so Platon: seine Staatsutopie ist aristokratisch, und die Weisen bilden eine geschlossene Kaste. Da das Wissen und die Weisheit ein exklusives Privileg bilden, bleibt dem gemeinen Volk nichts anderes übrig, als sich mit den Mythen zu ernähren, die zum Gehorsam ermahnen. Aus diesem Aristokratismus - und nicht aus einem ideengeschichtlichen Einfluss - erklärt sich die Gemeinsamkeit zwischen Platon und Nietzsche hinsichtlich der "förderlichen Illusionen".


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Begriff der Willensfreiheit, mit dem die Menschen ihr Verhalten erklären, ist nur eine inadäquate Idee und erfaßt das Wesen der wahren Freiheit nicht Sie ist nicht "konstitutiv", sondern eher Hindernis der Befreiung - im Gegensatz zu dem, was die Ideologietheorie der Althusserianer oder die Negrische Konzeption zu verstehen gibt.

Von einer Konstitution zu sprechen ist legitim, allerdings liegt ihre Quelle woanders. Die inadäquaten Ideen, die der Mensch als ein unfreies Geschöpf der natura naturata hat, können nicht von sich selbst in adäquate umschlagen. Dazu fehlt ihnen die Kraft, da sie, insofern sie Unwahres und Falsches enthalten, nur "cognitionis privatio" sind. Es ist ein Rekurs auf die Idee Gottes nötig, auf eine Idee, die immer adäquat ist. Die Idee Gottes, die wir schon ("enim") haben, weist bei Spinoza das letztendliche Konstitutionsprinzip der menschlichen Freiheit und vernünftigen Gesellschaftlichkeit auf. Das Falsche "wächst" nicht zur Wahrheit, ebensowenig wie ein krummer Baum wieder zum geraden wachsen kann. Das Falsche wird mit Gottes Hilfe aufgelöst, indem es in den Kontext des Ganzen gesetzt wird: adäquates Wissen besteht nämlich darin, die Dinge in Gott zu sehen (Eth. V.16 dem., vgl. I.25 coroll., II.45).

Das Konstitutionsprinzip Spinozas ist somit unbedingt positiv. An Falschem als einem Mittel zur Konstitution von Gesellschaftlichkeit können nur diejenigen interessiert sein, für die es vorteilhaft ist, daß die Menge unwissend bleibt, daß die Unwissenheit des Volkes für die herrschende Klasse nötig ist, um ihre eigenen Positionen aufrechterhalten zu können, kann nicht resignativ dahin uminterpretiert werden, daß die Illusion immer und ewig eine gesellschaftliche Notwendigkeit ist. Wird dieser Standpunkt akzeptiert (und die Althusserianer tun es, seltsam genug), führt dies zur Aufgabe der emanzipatorischen Perspektive, die bei Spinoza trotz seines illusionslos-realistischen Menschenbildes stark präsent ist.

Es stimmt, daß die rationale Gesellschaft, von der Spinoza sprach, etwas Künftiges war, und daß der Weg dorthin erst gefunden und begründet werden mußte. Deshalb war Spinoza genötigt, die Realitäten des heutigen, von Passionen und inadäquaten Ideen geprägten Gesellschaftszustandes in Betracht zu ziehen. Aber Spinozas Strategie war es nicht, das Inadäquate als Ausgangspunkt oder gar als "Konstitutionsprinzip" anzuerkennen (hätte er dies getan, so hätte seine Position an die des russischen "Gottesbildnertums" zwei Jahrhunderte später erinnert, das bekanntlich davon ausging,


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daß eine auf Befreiung zielende politische Bewegung auch auf religiöse und andere Vorurteile des Volkes aufbauen kann). 173

Spinozas Strategie war, die Adäquatheit menschlichen Denkens so zu intensivieren, daß die falschen und wahren Elemente des imaginativen Denkens mit Hilfe der "vernünftigen Überlegung" aufgezeigt werden konnten. Diese Aufgabe wäre unmöglich zu realisieren, wenn es nicht von vornherein so wäre, daß "Gottes unendliches Wesen und seine Ewigkeit allen bekannt ist" (II.47 schol.) - mit anderen Worten: wenn die Menschen nicht eine Möglichkeit hätten, adäquate Ideen zu bilden. Wegen der Immanenz Gottes in jedem Einzelding ist es unmöglich, total falsche und inadäquate Ideen zu bilden. Eine Idee, die aus hundert Prozent Falschheit bestünde, wäre nämlich eine solche, die Gott total verneinen müßte. So gibt es denn auch in der denkbar falschesten Idee einen Rest von Gott, der als Ansatzpunkt für künftige adäquate Erkenntnis dienen kann. 174

Mit der Idee Gottes wird auch die Emanzipation im nicht-utopistischen Sinne möglich: die adäquaten (d.h. auf Gott bezogenen) Ideen geben gleichsam ein Werkzeug, wodurch man Wahres und Falsches in den Gebilden der Imagination aussortieren kann - und weitergehen, bis man "sapientiae culmen attingat" (G II, S. 14). Gerade so wollte Spinoza an der Stelle, die wir oben zitierten, mit den Weissagungen der Propheten verfahren.

Weit entfernt also, Falsches als "etwas Wahres" auszugeben, möchte Spinoza, daß die wachsende Adäquatheit des menschlichen Denkens die Menschen dazu leitet, überall und immer besser zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.








173 Insofern glichen die ultralinken Bewegungen der 60er und 70er Jahre den russischen "Bogostrojiteli" und "Bogoiskateli" der Jahrhundertwende, und wer die Texte Alexander Bogdanows gelesen hat, findet bei Althusser viel Altbekanntes.

174 Die Idee Gottes, die wir "nämlich" (enim) haben, muß auf diese Weise verstanden werden. Sie ist keine eingeborene Idee im Sinne Platons oder Descartes'. Als Ausdruck göttlicher Immanenz ist die idea Dei Spinozas gegen die Kritik seitens der Empiristen resistenter denn die Auffassung anderer Rationalisten, für die Gott eher transzendent war und auch die "Garantie der Wahrheit", die wie ein Deus ex machina von außen her kam (vgl. Descartes' Beteuerungen, daß Gott nicht betrügen kann).

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